Bundesgerichtshof
Entscheidung vom 30.11.1954, Az.: 1 STR 373/54
Tenor
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts in Amberg vom 6. April 1954, soweit der Angeklagte von der Anklage wegen Verbrechens gegen § 176 Abs. 1 Nr. 2 in Tateinheit mit Vergehen gegen § 182 StGB freigesprochen worden ist, mit den Feststellungen aufgehoben.
Insoweit wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an das Landgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Entscheidungsgründe
Der Angeklagte war durch Urteil des Landgerichts Amberg vom 8. April 1952 wegen eines fortgesetzten Verbrechens der Unzucht mit einer Geisteskranken zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, von der weiter erhobenen Anklage der Anstiftung zur Begünstigung aber freigesprochen worden. Dieses Urteil ist rechtskräftig geworden. Im Wiederaufnahmeverfahren hat das Landgericht Amberg den Angeklagten - unter Aufhebung des Urteils vom 8. April 1952 - am 6. April 1954 freigesprochen. Gegen dieses Urteil hat die Staatsanwaltschaft Revision eingelegt und die Verletzung des Verfahrens- sowie des sachlichen Rechts gerügt.
Der Angeklagte hat nach den Feststellungen des Landgerichts im April 1951 und dann noch zu wiederholten Malen in den darauffolgenden Wochen mit der am 8. Juli 1935 geborenen schwachsinnigen Edith H. den Geschlechtsverkehr ausgeübt. Das Landgericht verneint die Anwendbarkeit des § 176 Abs. 1 Nr. 2 StGB mit der Begründung, dass die Edith H. zwar schwachsinnig sei - es nimmt in Übereinstimmung mit dem ärztlichen Sachverständigen, Landgerichtsarzt Medizinalrat Dr. Jung, Debilität, also Schwachsinn minderen Grades, an -, dass sie aber - insoweit weicht das Landgericht von dem Sachverständigengutachten ab - noch in der Lage sei, "zwischen einer dem Sittengesetz entsprechenden und einer ihm widerstreitenden Befriedigung des Geschlechtstriebes" zu unterscheiden, und dass sie dem Verlangen nach Beischlaf mit freier Entschliessung zu begegnen vermochte. Da das Landgericht es auch nicht als erwiesen ansieht, dass der Angeklagte damit rechnete, der Edith H. fehle dieses Unterscheidungsvermögen und diese Fähigkeit, einem an sie gestellten Verlangen nach Geschlechtsverkehr mit freier Entschliessung zu begegnen, gelangte es auch nicht zu einer Verurteilung des Angeklagten wegen versuchten Verbrechens gegen § 176 Abs. 1 Ziff 2 StGB.
Nach Ansicht der Strafkammer ist auch der Tatbestand des § 182 StGB - Verführung - nicht erfüllt, da dieser ein Geneigtmachen zum Beischlaf voraussetze, die Edith H. sich aber dem Angeklagten ohne weitere Einwirkung auf ihren Willen freiwillig hingegeben habe.
Diese Auffassung der Strafkammer vom Wesen des § 182 StGB ist rechtsirrig und verletzt das Gesetz, so dass schon aus diesem Grunde das Urteil aufgehoben werden musste. Darüber, wie es zum ersten Geschlechtsverkehr des Angeklagten mit der Edith H. im April 1951 gekommen ist, besagen die Feststellungen des Urteils: er erfasste die Edith H. und zog sie in ein Gebüsch; er drückte sie dort zu Boden, zog ihr den Schlüpfer aus und übte mit ihr den Geschlechtsverkehr aus; Edith H. leistete dabei keinen Widerstand, obwohl sie bei dem Geschlechtsverkehr Schmerzen verspürte. - Nun ist es ohne Frage richtig, dass die Verführung nach § 182 StGB ein "Geneigtmachen" zum Beischlaf voraussetzt und dass dieser Tatbestand nicht vorliegt, wenn sich das Mädchen ohne irgend eine Beeinflussung seines Willens oder irgend einen Missbrauch seiner Unerfahrenheit von sich aus freiwillig hingegeben hat (RGSt 53, 130). Der festgestellte Sachverhalt zeigt aber einerseits ein Verhalten des Angeklagten, das durchaus das Merkmal des "Geneigtmachens" enthält, und andererseits ein Verhalten des betroffenen Mädchens, das nach den besonderen Umständen des Falles keineswegs dahin gekennzeichnet werden kann, dass es sich ohne Willensbeeinflussung freiwillig preisgab. Ein Missbrauch der geschlechtlichen Unerfahrenheit oder der geringen seelischen Widerstandskraft kann auf sehr verschiedene Weise geschehen, und welches Mittel der Täter wählt, ist für die Feststellung des Tatbestandes gleichgültig. Es ist auch unerheblich, ob es einer länger dauernden Einwirkung auf den Willen des Mädchens bedurfte oder ob - wegen der besonders geringen seelischen und sittlichen Widerstandskraft des Opfers - eine sehr kurze Einwirkung genügte. Dass es bei einem mit so geringen geistigen Kräften begabten Mädchen wie der Edith H. bei einem entschlossenen Zugriff nur zu einem kaum spürbaren und äusserlich gar nicht in die Erscheinung tretenden Widerstreben kam, entspricht der Lebenserfahrung. Wenn der Angeklagte die Edith H. "erfasste, ins Gebüsch zog, sie zu Boden drückte, ihr den Schlupfer auszog" und dann den Geschlechtsverkehr ausübte, so lag in diesem entschlossenen und zielbewussten, wenn auch nur rein körperlichen Hinführen zum Beischlaf eine wirksame Willensbeeinflussung, die das Tatbestandsmerkmal des Verführens erfüllt. Wenn also, was nach den tatsächlichen Feststellungen des Urteils zu vermuten ist, die Edith H. bei dem ersten Geschlechtsverkehr mit dem Angeklagten im April 1951 noch unbescholten war, wäre der Angeklagte, sofern er nicht etwa Anhaltspunkte für die Annahme der Bescholtenheit gehabt hat, bei dem festgestellten Sachverhalt jedenfalls wegen Vergehens gegen § 182 StGB zu verurteilen gewesen, da der erforderliche Strafantrag offenbar rechtzeitig gestellt ist (Bl 4 d.A.).
Da bei dieser Sachlage das den Angeklagten insoweit freisprechende Urteil mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufzuheben ist, erübrigt sich ein Eingehen auf die im übrigen geltendgemachten Revisionsrügen. Für die nunmehr auch unter dem Gesichtspunkt eines Verbrechens gegen § 176 Abs. 1 Nr. 2 StGB notwendig werdende erneute Würdigung des Sachverhalts erscheint der Hinweis angezeigt, dass es zwar nicht ohne weiteres einen Rechtsfehler darstellt, sondern im tatrichterlichen Ermessen liegen kann, wenn das Gericht vom Gutachten eines Sachverständigen unter Berufung auf die eigene Sachkunde und unter Verwertung anderer Ergebnisse der Beweisaufnahme abweicht. Das Gericht wird sich aber vor Augen halten müssen, dass es nur mit überzeugenden Gründen von dem Gutachten eines anerkannten Sachverständigen wird abweichen können und dass es, wenn es Zweifel an der Richtigkeit eines Sachverständigengutachtens hat, sorgfältig zu prüfen haben wird, ob nicht die Einholung eines weiteren Gutachtens geboten erscheint.
Weiterhin ist darauf hinzuweisen, dass, wenn die Ergebnisse der neuen Hauptverhandlung weder eine Verurteilung wegen vollendeten oder versuchten Verbrechens der Unzucht mit einer Geisteskranken noch eine solche wegen Verführung rechtfertigen sollten, noch zu prüfen sein wird, ob nicht der Tatbestand der tätlichen Beleidigung (§ 185 StGB) gegeben ist. Das Verhalten des Angeklagten gegenüber der H. würde selbst dann als Beleidigung anzusehen sein, wenn sie als Geistesschwache nicht in der Lage gewesen sein sollte, es in seinem den Ausdruck der Missachtung enthaltenden Sinne geistig zu erfassen. Wenn sie dagegen etwa das sittliche Unterscheidungsvermögen in Bezug auf den Geschlechtsverkehr besass, dann wird man sogar annehmen dürfen, dass sie die in dem Verhalten des Angeklagten ihr gegenüber liegende Kundgabe der Missachtung verstanden hat, auch wenn sie - worauf es nicht ankommt - dieses Verhalten nicht gefühlsmässig als ehrverletzend empfunden hat. Wie weit sie den Begriff der Geschlechtsehre erfasst und das volle Verständnis für den Wert der Wahrung ihrer Geschlechtsehre gehabt hat und ob somit der in ihrem Verhalten möglicherweise liegenden Einwilligung in die Verletzung ihrer Ehre eine die Rechtswidrigkeit ausschliessende Bedeutung zukommt, ist eine weitere Frage, zu der auf die in RGSt 60, 34, HRR 1938 Nr. 777, DR 1941, 1451² abgedruckten Entscheidungen hingewiesen sei.
Die Entscheidung entspricht dem Antrag des Oberbundesanwalts.