Bundesgerichtshof
Entscheidung vom 11.11.1952, Az.: 1 STR 465/52
Tenor
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts in Baden-Baden vom 26. Juni 1952 wird verworfen.
Die vom Angeklagten seit dem 26. Juni 1952 weiter erlittene Untersuchungshaft wird, soweit sie drei Monate übersteigt, auf die Strafe angerechnet.
Der Angeklagte hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.
Entscheidungsgründe
I. Verfahrensrügen:
1.) Zur Begründung der auf die Verletzung der §§ 69, 253 StPO gestützten Verfahrensrüge hat die Revision vorgetragen, der Vorsitzende der Strafkammer habe nach der Vernehmung des Kriminalsekretärs Sch. als Zeugen den die gleichgeschlechtliche Betätigung des Angeklagten mit Manfred S. betreffenden Teil des Protokolls verlesen, das der Zeuge bei der polizeilichen Vernehmung des Angeklagten am 13. Oktober 1951 über dessen Angaben aufgenommen hatte. Dem Sitzungsprotokoll ist über diesen Vorgang nichts zu entnehmen. Nach den Erklärungen des Vorsitzenden und der Protokollführerin, die im Beschluss vom 19. Juli 1952 enthalten sind, und der Gegenerklärung der Staatsanwaltschaft wurde der Kriminalsekretär Sch. in der Hauptverhandlung in der Weise als Zeuge vernommen, dass er veranlasst wurde, im Zusammenhang darüber auszusagen, was der Angeklagte bei seiner polizeilichen Vernehmung über seine Beziehungen zu Manfred S. angegeben hatte. Seine Aussage gab die Angaben des Angeklagten in den Grundzügen richtig wieder, enthielt aber in den Einzelheiten einige Lücken. Der Vorsitzende hielt ihm deshalb den Teil des Protokolls, über den er aussagen sollte, durch Verlesung vor, worauf der Zeuge seine Aussage ergänzte und erklärte, dass er sich nunmehr auch der zunächst nicht erwähnten Umstände wieder mit Sicherheit erinnere. Da die Angaben der Revision, des Vorsitzenden, der Protokollführerin und des Oberstaatsanwalts im wesentlichen übereinstimmen, ist davon auszugehen, dass sie die die Vernehmung des Zeugen Sch. betreffenden Vorgänge richtig wiedergeben.
Die Revision ist der Auffassung, das Protokoll über die polizeiliche Vernehmung des Angeklagten, das der Zeuge aufgenommen hatte, hätte nicht verlesen werden dürfen, weil der Zeuge in der Hauptverhandlung erklärt hatte, dass er sich an die Einzelheiten der Vernehmung und die Angaben des Angeklagten noch erinnere, und seine Aussage das auch bestätigt habe. Die Zulässigkeit der Verlesung des Protokolls sei an die - hier nicht gegebene - Voraussetzung geknüpft, dass der Zeuge ausdrücklich erkläre, dass er sich einer Tatsache nicht mehr erinnere.
Diese Rüge ist unbegründet. Die Vorschrift des § 253 Abs. 1 StPO greift unmittelbar schon deshalb nicht ein, weil sie nur den Fall betrifft, dass einem Zeugen oder Sachverständigen zur Unterstützung seines Gedächtnisses das Protokoll über seine frühere Aussage vorgelesen werden soll. Dem als Zeugen in der Hauptverhandlung vernommenen Kriminalsekretär Sch. wurde jedoch keine Niederschrift über seine eigene frühere Aussage, sondern ein Protokoll im Wege der Verlesung vorgehalten, das er selbst aufgenommen hatte und das die Erklärungen des Angeklagten enthielt. Die Zulässigkeit dieses Verfahrens ist nicht nach § 253 StPO, sondern nach den §§ 249, 250 StPO zu beurteilen. Der Grundsatz der Unmittelbarkeit und der Mündlichkeit verbietet, solche Protokolle zu verlesen, um dadurch die Vernehmung derjenigen Person zu ersetzen, die das Protokoll aufgenommen hat. Er gestattet aber, solche Protokolle dem in der Hauptverhandlung als Zeugen vernommenen Vernehmungsbeamten als Gedächtnisstütze zugänglich zu machen, wobei es keinen Unterschied ausmacht, ob das durch Vorhalt seines Inhalts, durch Vorlegung zum Durchlesen oder durch wörtliche Verlesung geschieht. Es darf nur kein Zweifel darüber entstehen, dass nicht der Inhalt des verlesenen Schriftstücks, sondern die vom Zeugen nach Kenntnis des Schriftstücks abgegebene Erklärung Beweisgrundlage sein soll. In diesem Sinne hat auch der Bundesgerichtshof schon entschieden (BGHSt Bd. 1 S. 4, 8). So ist auch die Strafkammer hier verfahren.
Ist danach die Zulässigkeit der Verlesung zum Zwecke des Vorhalts und als Gedächtnisstütze für den Zeugen an sich nicht zu bezweifeln, so kann nur noch die Frage entstehen, ob auch der Vorhalt an die in § 253 Abs. 1 StPO aufgestellte Voraussetzung geknüpft ist, dass der Zeuge erklärt, er könne sich einer Tatsache nicht mehr erinnern. Dem § 253 Abs. 1 StPO liegt, wie der Senat schon ausgesprochen hat (BGHSt Bd. 1 S. 337, 340), u.a. der Gedanke zugrunde, dass der Beweiswert einer Aussage verschieden beurteilt werden kann, je nachdem, ob ein Zeuge über einen Vorgang aus lebendiger Erinnerung zu berichten imstande ist oder ob er zur Unterstützung und Auffrischung seines Gedächtnisses einer Stütze bedarf. Er bedeutet aber zugleich eine Ausnahme von dem Grundsatz der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit, weil im Falle des § 253 StPO nicht nur die Erklärung, die der Zeuge auf die Verlesung seiner früheren Aussage hin abgibt, sondern diese frühere Aussage selbst als Beweisgrundlage verwertet werden darf. Weil § 253 StPO in diesem Sinne eine Ausnahme von dem Grundsatz der §§ 249, 250 StPO bedeutet, war es geboten, sie an bestimmte enge Voraussetzungen zu knüpfen. Wird aber einem Zeugen ein Schriftstück als Gedächtnisstütze in der Weise zugänglich gemacht, dass die Bekundung des Zeugen alleinige Beweisgrundlage bleibt, wird der Grundsatz der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit nicht durchbrochen und es entfällt die Notwendigkeit, aus diesem Grunde bestimmte enge Voraussetzungen aufzustellen. Es brauchen deshalb nur diejenigen Grundsätze eingehalten zu werden, die beobachtet werden müssen, um den Beweiswert einer Zeugenaussage richtig bemessen zu können. Einer dieser Grundsätze besteht in der Tat darin, dass erkennbar werden muss, was der Zeuge über einen Vorgang aus lebendiger Erinnerung zu berichten weiss und was er erst bekunden kann, nachdem seinem Gedächtnis in irgendeiner Weise nachgeholfen worden ist. Dieser Grundsatz liegt nicht nur dem § 253 StPO mit zugrunde, er hat, wie § 69 StPO erkennen lässt, jede Vernehmung eines Zeugen zu beherrschen (vgl das zur Veröffentlichung bestimmte Urteil des Senats vom 21. Oktober 1952 - 1 StR 287/52). Danach ist der Zeuge zu veranlassen, das, was ihm von dem Gegenstand seiner Vernehmung bekannt ist, im Zusammenhang anzugeben. Erst danach ist es zulässig zur Aufklärung und Vervollständigung der Aussage sowie zur Erforschung des Grundes, auf dem sein Wissen beruht, nötigenfalls weitere Fragen an ihn zu richten. Auf den hier in Rede stehenden Fall des Vorhalts eines. Schriftstücks als Gedächtnisstütze angewendet, bedeutet der Grundsatz, dass einem Zeugen ein Schriftstück auch als Stütze seines Gedächtnisses erst vorgehalten werden darf, nachdem deutlich geworden ist, was er ohne diese Stütze zu bekunden vermag. Dagegen fehlt es an einem inneren Rechtfertigungsgrunde, wenn man in entsprechender Anwendung des § 253 Abs. 1 StPO, der die Verlesung eines Protokolls zu Beweiszwecken gestattet, als Voraussetzung für den blossen Vorhalt eines Schriftstücks ausserdem noch die Erklärung des Zeugen verlangen wollte, dass er sich einer Tatsache nicht mehr erinnere.
Aus dem Vorbringen der Revision wie aus den dienstlichen Erklärungen des Vorsitzenden, der Protokollführerin und des Oberstaatsanwalts ergibt sich in gleicher Weise, dass dem Kriminalsekretär Sch. das von ihm aufgenommene Protokoll über die Vernehmung des Angeklagten erst vorgehalten worden ist, nachdem der Zeuge im Zusammenhang bekundet hatte, was ihm von den Angaben des Angeklagten noch in Erinnerung war. Der Zeuge ist also so vernommen worden, wie es § 69 StPO vorschreibt und dem Grundgedanken des § 253 StPO, soweit er auf Vorhalte anwendbar ist, entspricht. Die Verlesung der Niederschrift zum Zwecke des Vorhalts war nicht davon abhängig, dass der Zeuge vorher erklärte, sich einer Tatsache nicht mehr erinnern zu können. Es braucht deshalb nicht erörtert zu werden, ob eine solche Erklärung, die auch im Falle des § 253 StPO nicht ausdrücklich abgegeben zu werden braucht, den Umständen zu entnehmen war.
Die auf die Verletzung der §§ 69, 253 StPO gestützte Verfahrensrüge ist nach alledem unbegründet.
2.) Durch Beschluss vom 23. April 1952 ordnete die Strafkammer gemäss § 223 StPO die kommissarische Vernehmung des Zeugen Horst G. an und ersuchte das Amtsgericht in Köln um die Vernehmung des Zeugen. Dieses führte am 19. Mai 1952 die Vernehmung durch, verabsäumte jedoch entgegen der Vorschrift des § 224 StPO, den Verteidiger und den Angeklagten vom Vernehmungstermin zu benachrichtigen. Der Verteidiger widersprach deshalb der Verwertung der Vernehmungsniederschrift und beantragte, den Zeugen zur Hauptverhandlung zu laden. Die Ladung konnte jedoch dem Zeugen nicht zugestellt werden, weil er inzwischen von Köln verzogen war und sein Aufenthalt trotz Fahndung nicht ermittelt werden konnte. In der Hauptverhandlung beschloss die Strafkammer gemäss § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO, sowohl die Niederschrift über die richterliche Vernehmung des Zeugen G. vom 19. Mai 1952 wie auch die Protokolle über frühere richterliche Vernehmungen vom 27. Mai 1951 und 20. Juni 1951 zu verlesen. Die Revision sieht in der Verlesung der Protokolle eine Verletzung des § 251 StPO, jedoch zu Unrecht. Denn § 251 Abs. 1 Nr. 2 oder Nr. 3 sind nicht verletzt, weil das Landgericht die Verlesung der Vernehmungsniederschriften nicht auf Grund dieser Bestimmungen angeordnet hat. Es kann deshalb hier unentschieden bleiben, ob die Verletzung des § 224 StPO überhaupt in jedem Falle oder mindestens bei Widerspruch des Angeklagten oder des Verteidigers zur Folge hat, dass die Niederschrift über die unter Verletzung des § 224 StPO zustande gekommenen Vernehmung nicht gemäss § 251 Abs. 1 Nr. 2 oder 3 StPO verlesen werden darf, oder ob die Zulässigkeit der Verlesung durch den Verstoss an sich nicht in Frage gestellt wird, aber nunmehr zu entscheiden ist, ob sich das Gericht mit der Verlesung des fehlerhaft zustande gekommenen Protokolls begnügen darf oder ob nicht die Aufklärungspflicht von ihm verlangt, die Vernehmung unter Beachtung des § 224 StPO zu wiederholen. Die Vorschrift des § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO, auf die das Landgericht die Verlesung gestützt hat, ist aber nicht verletzt, weil hier die Benachrichtigung des Angeklagten und des Verteidigers vom Vernehmungstermin nicht Voraussetzung für die Verlesbarkeit der Vernehraungsniederschrift ist.
3.) Soweit das Landgericht Niederschriften über die Vernehmung des Siegfried W. verlesen hat, bestreitet, die Revision nicht die Verlesbarkeit der Protokolle, sondern macht nur geltend, sie hätten für das Gericht keine ausreichende Grundlage für Schuldfeststellungen zum Nachteil des Angeklagten bilden dürfen. Das Landgericht hatte jedoch den Beweiswert der Angaben W. nach § 261 StPO nach seinem pflichtgemässen Ermessen zu beurteilen. Auch soweit die Revision im Falle D. geltend macht, das Landgericht hätte den Angaben dieses Zeugen nicht glauben dürfen, bemängelt sie nur in unzulässiger Weise die dem Tatrichter vorbehaltene Beweiswürdigung, ohne damit eine Rechtsrüge zu verbinden, auf die nach § 337 StPO die Revision allein gestützt werden kann.
II. Sachbeschwerde:
Die Verurteilung des Angeklagten wegen fortgesetzter Unzucht zwischen Männern nach § 175 StGB im Falle Manfred S., wegen fortgesetzter erschwerter Unzucht zwischen Männern nach § 175 a Nr. 2 StGB im Falle Horst G. und wegen fortgesetzter erschwerter Unzucht zwischen Männern nach § 175 a Nr. 2 in Tateinheit mit 175 a Nr. 3 StGB in den beiden Fällen Fritz D. und Siegfried W. wird durch die Feststellungen getragen. In den Fällen G., D. und W. ist im Urteil in ausreichender Weise dargetan, dass zwischen dem Angeklagten und diesen jungen Burschen eine durch ein Dienstverhältnis begründete Abhängigkeit bestand. Der Angeklagte nahm von 1950 an von Malern Bilder in Kommission und verkaufte diese im Umherziehen in verschiedenen Teilen der Bundesrepublik. Da er wegen seiner Kriegsverletzung die Bildermappen selbst nicht tragen konnte, verpflichtete er sich nacheinander die jungen Burschen dazu und versprach ihnen dafür, für ihren Unterhalt zu sorgen. Während der Zeit, in der sie den Angeklagten auf seinen Reisen begleiteten und für ihn die vorgesehenen Hilfsdienste verrichteten und er dafür für ihren Unterhalt und ihre sonstigen Bedürfnisse aufkam, kam es zu den im Urteil näher dargelegten Unzuchtshandlungen. Die Burschen waren, als der Angeklagte sie als Bildernappenträger einstellte, arbeitslos, G. und D. zudem mittellos und ohne Obdach, so dass sie die Einstellung durch den Angeklagten als Rettung aus der Not empfanden und die Besorgnis, im Falle der Trennung vom Angeklagten wieder in die frühere Notlage zu geraten, sie besonders eng an ihn band. Dem Urteil ist die Überzeugung des Gerichts zu entnehmen, dass der Angeklagte diese ihm bekannte Abhängigkeit bewusst dazu ausnutzte, die jungen Burschen, die sich bis dahin noch nie gleichgeschlechtlich betätigt hatten und denen zum Teil diese Betätigung sogar unbekannt war, dazu zu bestimmen, mit ihm Unzucht zu treiben und sich von ihm zur Unzucht missbrauchen zu lassen. Von D. und W. wusste der Angeklagte nach den Urteilsfeststellungen, dass sie noch keine 21 Jahre alt waren. Die Verteidigung des Angeklagten, D. sei von Anfang an mit dem Treiben einverstanden gewesen und habe sich sogar selbst angeboten, hält das Landgericht für unglaubwürdig und widerlegt. Es hat die Überzeugung erlangt, dass sich der Angeklagte den jungen Burschen, dem gleichgeschlechtliche Betätigung bis dahin unbekannt war, zur Unzucht dadurch geneigt machte, dass er bei Übernachtungen in demselben Zimmer zärtlich zu ihm wurde und dass im übrigen die Befürchtung, sonst die Stellung beim Angeklagten zu verlieren, als Druck mitwirkte. Nach den ausdrücklichen Urteilsfeststellungen hat D. trotz der Wiederholung der Unzuchtshandlungen einen letzten Widerwillen gegen sie nie aufgegeben. Ähnliche Feststellungen hat das Landgericht im Falle W. getroffen. Mit Recht hat es deshalb in diesen beiden Fällen, auch den Tatbestand der Verführung und damit ein mit dem Verbrechen gegen § 175 a Nr. 2 in Tateinheit stehendes Verbrechen gegen § 175 a Nr. 3 StGB bejaht.
Gegen die Verurteilung wegen fortgesetzten Betruges und wegen Betruges in weiteren sechs Fällen wendet die Revision nur ein, dem Angeklagten habe die betrügerische Absicht und der Wille gefehlt, die Geschäftspartner zu schädigen. Sie setzt sich damit in Widerspruch zu den ausdrücklichen Urteilsfeststellungen. Dass der Angeklagte, nachdem das Urteil ergangen war, eine Rentennachzahlung erhalten hat, ist eine neue Tatsache, die in diesem Rechtszuge nicht berücksichtigt werden kann. Die Nachzahlung erreicht im übrigen bei weitem nicht die Höhe des Schadens, den der Angeklagte angerichtet hat. Die Summe ist auch zu einen grossen Teil erst in der Zeit aufgelaufen, in der sich der Angeklagte schon in Haft befand.
Die Revision ist nach alledem im ganzen unbegründet und muss verworfen werden.