Bundesgerichtshof
Entscheidung vom 15.12.2011, Az.: 1 STR 579/11
Entscheidungsgründe
1. Die Verfahrensrüge einer Verletzung des § 189 GVG, mit der geltend gemacht wird, der Dolmetscher für die arabische Sprache eines Mitangeklagten, K., sei nicht gemäß § 189 Abs. 1 GVG vereidigt worden und habe sich auch nicht auf seine - zuvor schon erfolgte - allgemeine Beeidigung als Dolmetscher berufen, hat keinen Erfolg.
a) Allerdings zeigt die Revision zutreffend auf, dass das Hauptverhandlungsprotokoll - vor dessen Berichtigung - weder einen Hinweis darauf enthalten hat, dass dieser Dolmetscher dahin beeidigt worden ist, treu und gewissenhaft zu übertragen, noch, dass er sich auf seine allgemeine Beeidigung als Dolmetscher berufen hat. Durch das Fehlen eines derartigen Hinweises wird der Verstoß gegen § 189 GVG unwiderleglich bewiesen, denn bei der Vereidigung eines Dolmetschers gemäß § 189 Abs. 1 GVG handelt es sich um eine wesentliche Förmlichkeit i.S.v. § 274 StPO (vgl. BGH, Beschluss vom 29. Juni 1987 - 3 StR 285/87, BGHR GVG § 189 Beeidigung 1).
b) Die Verfahrensrüge dringt aber nicht durch, weil der Senat ausschließen kann, dass das angefochtene Urteil auf diesem Verstoß beruht (aa). Zudem wurde das Hauptverhandlungsprotokoll ordnungsgemäß dahin berichtigt, dass sich der Dolmetscher K. auf seine allgemeine Vereidigung als Dolmetscher für die arabische Sprache berufen hat (bb).
aa) Der Senat schließt aus, dass das Urteil auf einer Nichtberufung des Dolmetschers K. beruht, der für einen Mitangeklagten hinzugezogen worden war.
Angesichts der Vereidigung der übrigen Dolmetscher in der Hauptverhandlung bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass dem Dolmetscher K. sein eigener allgemein geleisteter Eid aus dem Blick geraten sein könnte. Auch sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass er deswegen nicht treu und gewissenhaft übertragen hat, weil nicht nach außen dokumentiert ist, dass er sich seine allgemeine Beeidigung gerade im Einzelfall vergegenwärtigt hat. Vielmehr ist fernliegend, dass ein allgemein vereidigter Dolmetscher, der jahrelang bei Gericht übersetzt und sich immer wieder auf seinen allgemein geleisteten Eid berufen hat, sich seiner Verpflichtung im Einzelfall nicht bewusst war und er deshalb unrichtig übersetzt hat (vgl. BGH, Beschluss vom 27. Juli 2005 - 1 StR 208/05, NStZ 2005, 705).
Es ist deshalb in Fällen wie hier, in denen keine Anzeichen dafür sprechen, dass der Dolmetscher sich seiner besonderen Verantwortung im konkreten Fall nicht bewusst war, auszuschließen, dass das Urteil auf dem Verfahrensverstoß beruht (vgl. BGH, Beschluss vom 28. November 1997 - 2 StR 257/97, BGHR GVG § 189 Beeidigung 3). Im vorliegenden Fall kommt noch hinzu, dass in der Hauptverhandlung für einen anderen Mitangeklagten noch ein weiterer vereidigter Dolmetscher für die arabische Sprache tätig war, der jedenfalls die für ihn wahrnehmbare Dolmetschertätigkeit des Dolmetschers K. auf ihre Richtigkeit hin prüfen konnte. Im Übrigen schließt der Senat ein Beruhen des Urteils auf dem geltend gemachten Verfahrensverstoß auch deswegen aus, weil der Angeklagte ein umfangreiches Geständnis abgelegt hat und seine Angaben von zahlreichen Zeugen bestätigt worden sind (UA S. 29).
bb) Die Verfahrensrüge hat auch deshalb keinen Erfolg, weil das Hauptverhandlungsprotokoll im Hinblick auf die Verfahrensrüge zulässig berichtigt und dabei das für eine Protokollberichtigung zu beachtende Verfahren eingehalten worden ist (vgl. dazu BGH, Großer Senat für Strafsachen, Beschluss vom 23. April 2007 - GSSt 1/06, BGHSt 51, 298; BVerfG, Beschluss vom 15. Januar 2009 - 2 BvR 2044/07, BVerfGE 122, 248). Das Hauptverhandlungsprotokoll ist wirksam dahin berichtigt worden, dass sich der Dolmetscher K. auf seinen allgemein geleisteten Eid berufen hat. Der ordnungsgemäß erhobenen Verfahrensrüge ist damit die Tatsachengrundlage entzogen, der geltend gemachte Verfahrensverstoß liegt nicht vor.
Im Hinblick auf den substantiierten Widerspruch des Revisionsverteidigers hat der Senat die Gründe der Berichtigungsentscheidung im Rahmen der Verfahrensrüge überprüft (vgl. dazu BGHSt 51, 298, 317). Die Gründe tragen die Berichtigung; der Senat hat auch sonst keine Zweifel daran, dass die Berichtigung zu Recht erfolgt ist. Bei der Überprüfung hat der Senat neben dem Umstand, dass sich der Kammervorsitzende und die Protokollführerin sicher waren, der Dolmetscher K. habe sich auf den von ihm geleisteten Eid berufen, insbesondere berücksichtigt, dass die von den weiteren Berufsrichtern, dem Sitzungsstaatsanwalt und dem betroffenen Dolmetscher eingeholten dienstlichen Stellungnahmen die Berichtigung ebenfalls tragen. Der Kammervorsitzende hatte sogar noch die konkrete Erinnerung daran, überrascht gewesen zu sein, dass von den beiden in dem Verfahren als Dolmetscher eingesetzten Brüdern K., die beide seit vielen Jahren als Dolmetscher beim Landgericht Essen tätig waren, nur der Dolmetscher K. allgemein vereidigt war. Der Senat hat bei seiner Überprüfung der vorgenommenen Protokollberichtigung auch berücksichtigt, dass die beiden Instanzverteidiger angegeben hatten, keine Erinnerung mehr an den tatsächlichen Verfahrensablauf zu haben.
Die Auffassung der Revision, es sei selbst angesichts der von der Protokollführerin gefertigten handschriftlichen Aufzeichnungen ausgeschlossen, dass diese eine eigene sichere Erinnerung an den Vorgang haben könnte, teilt der Senat nicht.
2. Die näher ausgeführte Sachrüge hat aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts keinen den Angeklagten beschwerenden Rechtsfehler ergeben. Dies gilt auch für die Strafzumessung.
Der Erörterung bedarf allerdings die Annahme des Landgerichts, es sehe die Grenze für die Steuerhinterziehung "in großem Ausmaß" gemäß § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO "entsprechend der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bei 100.000 Euro" (UA S. 40). Dies lässt besorgen, das Landgericht sei der Auffassung, die Schwelle zur Hinterziehung "in großem Ausmaß" sei stets erst bei einer Verkürzung von 100.000 Euro überschritten. Dies ist indes nicht zutreffend.
Im Fall 1 der Urteilsgründe stellt das Landgericht zudem darauf ab, dass das aufgrund der unrichtigen Angaben des Angeklagten in der Umsatzsteuerjahreserklärung 2009 errechnete Umsatzsteuerguthaben nur teilweise ausgezahlt, überwiegend aber mit anderen "Steuerschulden der Ka. GmbH, insbesondere Lohnsteuer, verrechnet" wurde (UA S. 15). Das Landgericht war offenbar der - unzutreffenden - Auffassung, es mache für die Frage, ob eine Hinterziehung "in großem Ausmaß" vorliege, einen Unterschied, ob ein durch die Tat erlangtes (scheinbares) Steuerguthaben ausgezahlt oder aber mit anderweitigen Steuerschulden verrechnet werde.
Bei der Bestimmung des gesetzlichen Merkmals "in großem Ausmaß" im Regelbeispiel des § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO für einen besonders schweren Fall der Steuerhinterziehung gilt Folgendes:
a) Wie bereits im Grundsatzurteil des Senats vom 2. Dezember 2008 (1 StR 416/08, BGHSt 53, 71, 81) ausgeführt, bestimmt sich das Merkmal "in großem Ausmaß" im Regelbeispiel des § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO nach objektiven Maßstäben. Es liegt grundsätzlich dann vor, wenn der Hinterziehungsbetrag 50.000 Euro übersteigt. Die Betragsgrenze von 50.000 Euro kommt namentlich dann zur Anwendung, wenn der Täter ungerechtfertigte Zahlungen vom Finanzamt erlangt hat, etwa bei Steuererstattungen durch Umsatzsteuerkarusselle, Kettengeschäfte oder durch Einschaltung von sog. Serviceunternehmen ("Griff in die Kasse"). Ist diese Wertgrenze überschritten, dann ist das Merkmal erfüllt (BGHSt 53, 71, 85; vgl. auch BGH, Beschluss vom 5. Mai 2011 - 1 StR 116/11, NStZ 2011, 643, 644; BGH, Beschluss vom 12. Juli 2011 - 1 StR 81/11, wistra 2011, 396).
b) Beschränkt sich das Verhalten des Täters indes darauf, die Finanzbehörden pflichtwidrig über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis zu lassen und führt das lediglich zu einer Gefährdung des Steueranspruchs, liegt die Wertgrenze zum "großen Ausmaß" demgegenüber bei 100.000 Euro (BGHSt 53, 71, 85). Dasselbe gilt auch dann, wenn der Steuerpflichtige zwar eine Steuerhinterziehung durch aktives Tun (§ 370 Abs. 1 Nr. 1 AO) begeht, indem er eine unvollständige Steuererklärung abgibt, er dabei aber lediglich steuerpflichtige Einkünfte oder Umsätze verschweigt (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Juli 2011 - 1 StR 81/11, wistra 2011, 396) und allein dadurch eine Gefährdung des Steueranspruchs herbeiführt.
c) Anders ist die Sachlage, wenn der Täter steuermindernde Umstände vortäuscht, indem er etwa tatsächlich nicht vorhandene Betriebsausgaben vortäuscht oder nicht bestehende Vorsteuerbeträge geltend macht. Denn in einem solchen Fall beschränkt sich das Verhalten des Täters nicht darauf, den bestehenden Steueranspruch durch bloßes Verschweigen von Einkünften oder Umsätzen zu gefährden. Vielmehr unternimmt er einen "Griff in die Kasse" des Staates, weil die Tat zu einer Erstattung eines (tatsächlich nicht bestehenden) Steuerguthabens oder zum (scheinbaren) Erlöschen einer bestehenden Steuerforderung führen soll. Es bleibt dann deshalb für das gesetzliche Merkmal "in großem Ausmaß" bei der Wertgrenze von 50.000 Euro.
d) Trifft beides zusammen, das Verheimlichen von Einkünften bzw. Umsätzen einerseits und die Vortäuschung von Abzugsposten andererseits, etwa beim Verheimlichen von Umsätzen und gleichzeitigem Vortäuschen von Vorsteuerbeträgen, ist das Merkmal "in großem Ausmaß" i.S.v. § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO jedenfalls dann erfüllt, wenn der Täter vom Finanzamt ungerechtfertigte Zahlungen in Höhe von mindestens 50.000 Euro erlangt hat (vgl. BGH NStZ 2011, 643, 644 Rn. 13). Dasselbe gilt aber auch, wenn ein aufgrund falscher Angaben scheinbar in dieser Höhe (50.000 Euro) bestehender Auszahlungsanspruch ganz oder teilweise mit anderweitigen Steuerverbindlichkeiten verrechnet worden ist. Die Verrechnung steht dann nämlich insoweit einer Auszahlung gleich. Hat dagegen die Vortäuschung von steuermindernden Umständen für sich allein noch nicht zu einer Steuerverkürzung von mindestens 50.000 Euro geführt, verbleibt es für die Tat insgesamt beim Schwellenwert von 100.000 Euro (vgl. BGH NStZ 2011, 643, 644).
e) Ob die Schwelle des "großen Ausmaßes" überschritten ist, ist für jede einzelne Tat im materiellen Sinne gesondert zu bestimmen. Dabei genügt derjenige Erfolg, der für die Vollendung der Steuerhinterziehung ausreicht. Bei mehrfacher tateinheitlicher Verwirklichung des Tatbestandes der Steuerhinterziehung ist - nichts anderes gilt für § 371 Abs. 2 Nr. 3 AO - das "Ausmaß" des jeweiligen Taterfolges zu addieren, da in solchen Fällen eine einheitliche Handlung im Sinne des § 52 StGB vorliegt (BGHSt 53, 71, 85).
f) Eine nachträgliche "Schadenswiedergutmachung" hat für die Frage, ob eine Steuerhinterziehung "in großem Ausmaß" vorliegt oder nicht, keine Bedeutung. Die Höhe des auf Dauer beim Fiskus verbleibenden "Steuerschadens" ist ein Umstand, der erst bei der Prüfung, ob die Indizwirkung des Regelbeispiels im Einzelfall widerlegt ist, und im Übrigen als bloße Zumessungserwägung in die Strafzumessung einbezogen werden kann (vgl. im Übrigen zur Schadensverringerung mit Geldmitteln unklarer Herkunft BGH, Beschluss vom 5. Mai 2011 - 1 StR 116/11, NStZ 2011, 643, 645 Rn. 17, und einer solchen aufgrund von Pfändungen BGH, Beschluss vom 11. Oktober 2010 - 1 StR 359/10, insoweit nicht abgedruckt in NStZ 2011, 170).
Zutreffend hat das Landgericht daher den Umstand, dass "der Steuerschaden aufgrund der Beschlagnahme erheblicher Vermögenswerte der Ka. GmbH nachträglich vollständig kompensiert" wurde (UA S. 43), bei der Frage, ob das Regelbeispiel des § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO erfüllt ist, außer Betracht gelassen, in die Gesamtwürdigung, ob die Indizwirkung des Regelbeispiels widerlegt sein könnte, aber einbezogen.