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Bundesgerichtshof

Entscheidung vom 14.04.2010, Az.: 1 STR 64/10

Entscheidungsgründe

Das Landgericht hat die Angeklagte - neben zwei weiteren Angeklagten - unter anderem wegen mehrfachen schweren Bandendiebstahls und wegen banden- und gewerbsmäßig begangenen Computerbetrugs zu der Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt.

I. Die Angeklagte macht zu Unrecht geltend, die Zurücknahme der vom Instanzverteidiger eingelegten Revision habe nicht wirksam erfolgen können.

Dem liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

1. Dem am 18. November 2009 um 11.30 Uhr verkündeten Urteil war eine förmliche Verständigung (§ 257c StPO) vorausgegangen. Am selben Tag legte der bestellte Instanzverteidiger um 17.17 Uhr per Fax Revision ein und rügte zugleich allgemein die Verletzung materiellen Rechts. Etwa eine Stunde später, um 18.11 Uhr, nahm der Instanzverteidiger "namens und im Auftrag meiner Mandantin" - gleichfalls per Fax - die Revision zurück.

2. Am 20. November 2009 legitimierte sich ein anderer Verteidiger als Wahlverteidiger. Mit an das Landgericht gerichteten Schriftsatz vom 25. November 2009 legte er "auf ausdrücklichen Wunsch der Angeklagten" Revision ein.

Nachdem das Urteil dem Instanzverteidiger am 3. Dezember 2009 zugestellt worden war, begründete der neue Verteidiger mit Fax vom 2. Januar 2010 die Revision und trug zu deren Zulässigkeit vor:

"Die Angeklagte D. versicherte dem Unterzeichner, dass sie zu keinem Zeitpunkt mit dem Urteil ohne Bewährungsausspruch einverstanden gewesen ist. Sie hätte ihrem Pflichtverteidiger ausdrücklich aufgetragen, Revision einzulegen. Der Pflichtverteidiger habe schon anlässlich der Hauptverhandlung gesagt, es sei ein ‚Deal' mit dem Gericht gemacht worden. ... Frau D. lässt durch den Unterzeichner ausdrücklich vortragen, dass sie zu keinem Zeitpunkt mit einer Rücknahme der Revision einverstanden gewesen sei. Die Handlung ihres Pflichtverteidigers zur Rücknahme erfolgte so ohne ihr Wissen und vor allem ohne ihre Zustimmung!"

3. Der Vorsitzende der Strafkammer übersandte daraufhin diesen Schriftsatz dem Instanzverteidiger und bat ihn um eine Stellungnahme zu den Behauptungen der Angeklagten. Der Instanzverteidiger teilte dem Vorsitzenden am 12. Januar 2010 mit, "dass ich selbstverständlich Frau D. über das Ergebnis der am 18.11.2009 geführten Gespräche zwischen der Kammer, des Herrn Staatsanwalt und den Verteidigern informiert habe. Unabhängig davon, dass Sie auch in der Hauptverhandlung die Angeklagten über das Ergebnis dieser Gespräche informierten, war es Frau D. natürlich bewusst, dass die in Aussicht gestellte Strafe von zwei Jahren nicht zur Bewährung ausgesetzt wird. Darüber hinaus hatte ich mit ihr die Möglichkeit einer vorzeitig bedingten Entlassung gem. § 57 II Nr. 1 StGB erörtert. Frau D. habe ich auch, insbesondere um ihr einen raschen Übergang von der Untersuchungshaft in die Strafhaft zu ermöglichen, über die Möglichkeit einer gegenseitigen Revisionseinlegung und Rücknahme durch Verteidigung und Staatsanwaltschaft informiert. Auch hiermit war Frau D. einverstanden. Warum sich Frau D. nun eines anderen besonnen hat, ist mir bis heute unerklärlich.

Bei meinem letzten Besuch in der JVA Ravensburg lehnte sie es ab, mit mir zu sprechen, was mir in meiner mittlerweile über 10jährigen Tätigkeit als Strafverteidiger noch nie widerfahren ist."

4. Der Vorsitzende der Strafkammer gab zu dem Revisionsvorbringen des neuen Verteidigers eine dienstliche Äußerung ab:

"In der Sitzung vom 18. November 2009 wurde auf meinen - in Absprache mit der Kammer getroffenen - Vorschlag die Hauptverhandlung unterbrochen, um die Chancen einer verfahrensbeendenden Verständigung zu erörtern.

Die Erörterung fand statt in Anwesenheit der Kammermitglieder, des Vertreters der Staatsanwaltschaft und der drei Verteidiger. Das Ergebnis der Erörterung war eine Absprache, wie sie im Hauptverhandlungsprotokoll festgehalten wurde.

Gegenstand beziehungsweise Inhalt der Absprache war nicht die Frage eines Rechtsmittelverzichts. Vielmehr erklärte der Verteidiger der Angeklagten D., Rechtsanwalt W., von sich aus, nachdem die Absprache bereits getroffen war, dass er ja Revision einlegen und diese wieder zurücknehmen könne. Ich erklärte ihm hierauf, dass es seine Sache sei, ob er dies mache; jedenfalls Gegenstand der Absprache sei es nicht."

5. Auf das Schreiben des Instanzverteidigers und die dienstliche Äußerung des Vorsitzenden reagierte der neue Verteidiger nicht.

II. Die am 18. November 2009 eingelegte Revision hat der Instanzverteidiger wirksam zurückgenommen. Die am 25. November 2009 eingelegte Revision ist damit unzulässig (vgl. BGH NStZ-RR 2010, 55).

1. Der Senat glaubt der - unwidersprochen gebliebenen - Erklärung des Instanzverteidigers. Er wurde zur Zurücknahme des Rechtsmittels von der Angeklagten ausdrücklich ermächtigt (§ 302 Abs. 2 StPO). Die Rücknahme der Revision ist auch sonst wirksam.

2. Hieran ändert auch der Umstand nichts, dass dem Urteil eine Verständigung (§ 257c StPO) vorausgegangen ist.

Zwar ist nach § 302 Abs. 1 Satz 2 StPO ein Verzicht auf die Einlegung eines Rechtsmittels ausgeschlossen, wenn dem Urteil eine Verständigung vorausgegangen ist. Die - in Satz 1 ausdrücklich genannte - Rechtsmittelrücknahme hingegen ist schon nach dem Wortlaut dieser Bestimmung nicht ausgeschlossen. In der hier vorliegenden Fallgestaltung liegt keine Umgehung des Verbots des Rechtsmittelverzichts nach vorausgegangener Verständigung, sodass die Zurücknahme des Rechtsmittels auch noch vor Ablauf der Frist zu seiner Einlegung wirksam erfolgen konnte.

Der Instanzverteidiger hatte im Anschluss an das Urteil zunächst Revision eingelegt und damit die Möglichkeit einer revisionsgerichtlichen Überprüfung des Urteils durch die Angeklagte offen gehalten. Das ist für einen Angeklagten eine andere Entscheidungssituation als beim Rechtsmittelverzicht nach vorausgegangener Verständigung. Dieser erfolgt durch eine einzige, womöglich nicht hinreichend überlegte Erklärung und mag deshalb vorschnell ausgesprochen werden. Demgegenüber bedarf die spätere Rechtsmittelrücknahme einer weiteren Erklärung, durch welche die zuvor getroffene Entscheidung revidiert wird, Rechtsmittel einzulegen. Dadurch wird eine vorschnelle Festlegung des Angeklagten, kein Rechtsmittel einzulegen, vermieden.

Dies ermöglicht einem Angeklagten, seine Entscheidung (nochmals) zu überdenken, denn sein Verteidiger wird ihn regelmäßig auch vor dieser (zweiten) Entscheidung beraten. Wird zudem - wie hier - das Rechtsmittel durch einen (bestellten) Verteidiger zurückgenommen, so muss dieser dazu zuvor ausdrücklich ermächtigt sein (§ 302 Abs. 2 StPO).

Stimmt der Angeklagte - wie hier - einer solchen nach Beratung ergangenen Empfehlung durch den Verteidiger bereits vor Verkündung des Urteils zu, ist das jedenfalls dann unschädlich, wenn das Urteil der bekannt gegebenen Strafe entspricht und die für diesen Fall gegebene Empfehlung des Verteidigers auftragsgemäß umgesetzt wird. Denn auch dann hat es der Angeklagte noch immer in der Hand, autonom über die Durchführung des Rechtsmittels zu entscheiden und den Verteidiger zu veranlassen, von der Zurücknahme des Rechtsmittels (durch bloßes Nichtstun) abzusehen.

Die hier eingeschlagene Vorgehensweise war ausweislich der glaubhaften Äußerung des Instanzverteidigers mit der Angeklagten vorab besprochen worden. Für seine - den Interessen der Angeklagten Rechnung tragende - Empfehlung hat der Verteidiger auch einleuchtende Gründe genannt: So war die Staatsanwaltschaft ersichtlich bereit, das Urteil ebenfalls zu akzeptieren. Wenn es dann bei der Strafe von zwei Jahren verblieb, war die Möglichkeit einer Halbstrafenentlassung eröffnet. Würde man einem Angeklagten unter diesen Umständen verbieten, sein Rechtsmittel - auch noch innerhalb der Revisionseinlegungsfrist - zurückzunehmen (mit dem Risiko, dass die Staatsanwaltschaft ebenfalls Rechtsmittel mit dem Ziel einer höheren Strafe einlegt), so wäre dies mit der Rolle des Angeklagten als Subjekt des Strafverfahrens nicht vereinbar. Denn die Subjektstellung des Angeklagten erfordert, dass er Einfluss auf das Verfahren und auch auf sein Ergebnis nehmen können muss (vgl. nur BVerfG NJW 2004, 2443; NStZ 2007, 274).

3. Der Senat geht aufgrund der dienstlichen Äußerung des Vorsitzenden ferner davon aus, dass das Gericht auf die Revisionseinlegung und die anschließende Rechtsmittelrücknahme in keiner Weise hingewirkt hat und dass dieses Vorgehen auch nicht Inhalt der Verständigung war. Dieses Prozessverhalten war vielmehr die autonome Entscheidung der von ihrem Verteidiger sachgerecht beratenen Angeklagten.

Anders wäre der Fall wohl zu beurteilen, wenn ein Gericht im Zusammenhang mit Verständigungsgesprächen auf den Angeklagten einwirkt, Rechtsmittel allein deshalb einzulegen, um sodann durch Zurücknahme des Rechtsmittels die Rechtskraft herbeizuführen oder wenn eine solche Vorgehensweise gar Inhalt einer Verständigung wäre. Dann läge eine Umgehung des § 302 Abs. 1 Satz 2 StPO nahe mit der Folge der Unwirksamkeit einer solchen Rechtsmittelrücknahme.