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Bundesgerichtshof

Entscheidung vom 04.08.2010, Az.: 2 STR 118/10

Entscheidungsgründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen fahrlässiger Körperverletzung in Tateinheit mit Führen eines Butterflymessers unter Strafaussetzung zur Bewährung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt. Darüber hinaus hat es zu Gunsten des Nebenklägers eine Adhäsionsgrundentscheidung getroffen.

Die hiergegen gerichtete, auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist sie unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts war es zwischen dem 16jährigen Sohn M. des Angeklagten, und dem gleichaltrigen A. wiederholt zu Streitigkeiten und Handgreiflichkeiten gekommen; zuletzt drohte A. damit, seinen großen Bruder, den Nebenkläger H., einzuschalten. Der polizeilich als "Intensivtäter" geführte H. hatte in L. insbesondere aufgrund seiner Gewaltbereitschaft einen zweifelhaften Ruf; viele Jugendliche hatten Angst vor ihm. H. hatte auch mit M. schon einige Male Streit angezettelt und ihn einmal geohrfeigt (UA S. 8).

Am Abend des 22. März 2008 rief A. M. an, und forderte ihn im Namen seines Bruders H. auf, jetzt nach -O. zu kommen. M. verstand dies zutreffend als Ankündigung von Schlägen und erzählte seinem Vater davon. Da er Angst vor H. hatte, bat er den Angeklagten, ihn nach O. zu begleiten. Der Angeklagte, dem H. aus Erzählungen seines Sohnes als gewalttätig und leicht reizbar bekannt war (UA S. 66), erklärte sich dazu bereit, weil er die Sache "klären" und H. zum Einlenken bringen wollte. Sollte dies nicht gelingen, hielt er auch eine körperliche Auseinandersetzung für möglich (UA S. 9 f.). Mit nach O. fuhren zwei Freunde M. s (14 und 15 Jahre alt). Der Angeklagte hatte - wie des Öfteren - ein Butterflymesser in seiner Tasche. Einer der Jugendlichen hatte einen Baseballschläger eingepackt, was der Angeklagte allerdings erst unterwegs bemerkte.

In O. angekommen, forderte der Angeklagte den Türsteher einer Gaststätte, in der sich H. aufhielt, sehr aufgebracht auf, diesen hinauszuschicken. M. und sein 14jähriger Freund stellten sich wenige Meter abseits; sein 15jähriger Freund entfernte sich noch einige Meter weiter. Nach einer Weile erschien H., der eine Auseinandersetzung erwartete, mit einem schweren Holzknüppel und in Begleitung von mindestens acht teilweise erwachsenen Personen, von denen einige ebenfalls Schlagwerkzeuge mit sich führten und die sogleich den Angeklagten umstellten. Nach einem kurzen heftigen Wortwechsel schlug H. mit dem Holzknüppel wuchtig gegen den linken Arm des Angeklagten. Als er zum zweiten Mal ausholte und in Richtung Oberkörper-/ Kopfbereich zielte, ging der Angeklagte mit seinem Butterflymesser in der Hand auf ihn zu, wehrte den Schlag mit dem linken Arm ab und stach gleichzeitig rechts um H. herum von hinten in dessen Oberkörper (UA S. 13 f.). Beide fielen zu Boden, H. packte den Angeklagten am Kragen und schlug weiter zu; der Angeklagte seinerseits versetzte ihm weitere, nicht erhebliche Stiche. Der Stich in den Oberkörper H. s traf dessen Lunge und war akut lebensgefährlich.

2. Das Landgericht hat den mit bedingtem Tötungsvorsatz geführten Messerstich gegen den Oberkörper des Nebenklägers H. wie auch die folgenden Stiche als durch Notwehr gerechtfertigt gewertet. Es hat angenommen, der Angeklagte habe die bestehende Notwehrlage in sozialethisch zu missbilligender Weise und vorwerfbar verursacht. Obwohl sein Sohn von den H. - Brüdern zu einer Schlägerei "eingeladen" worden sei, habe er den Nebenkläger H. in Begleitung mehrerer Jugendlicher zur Rede stellen wollen. Er habe ein Messer bei sich geführt und den Kontakt zu dem gewaltbereiten und leicht reizbaren H. verbal aggressiv hergestellt, da er den Türsteher in aufgebrachtem Tonfall nach dem Nebenkläger gefragt habe. Er habe sich damit nicht nur "sehenden Auges" in eine Gefahrenlage begeben. Aufgrund der Art und Weise seines Auftretens - Erscheinen mit einer vermeintlichen Überzahl von Personen nach "Einladung" zu einer Schlägerei und aufgebrachter Tonfall - sei für einen objektiven Beobachter klar gewesen, dass es ihm nicht um ein vermittelndes Gespräch ging, sondern - falls sich H. nicht beeindrucken ließe - um eine Schlägerei (UA S. 66 f.).

Trotz der daraus folgenden Einschränkung seiner Notwehrbefugnisse sei sein Handeln gerechtfertigt gewesen. Aufgrund der Gefährlichkeit des Angriffs des Nebenklägers, der Einkesselung durch dessen Begleiter und seiner eigenen Standposition unmittelbar vor dem Nebenkläger sei dem Angeklagten weder ein Ausweichen noch eine erfolgversprechende Abwehr oder eine andere mildere Gegenwehr möglich gewesen (UA S. 67).

Der Angeklagte habe sich aber der fahrlässigen Körperverletzung strafbar gemacht. Insoweit sei an sein Vorverhalten anzuknüpfen, durch das er "die Notwehrlage auf sozialethisch zu missbilligende, vorwerfbare Weise verursacht" habe (UA S. 69). Er habe objektiv und subjektiv sorgfaltswidrig und für ihn vorhersehbar eine Situation entstehen lassen, die zum Eintritt des tatbestandlichen Erfolges geführt habe. Die Pflichtwidrigkeit im Rahmen der Fahrlässigkeit sei gleichsam "ein Spiegelbild des Verhaltens, das im Rahmen der Notwehr zur Einschränkung der Notwehrbefugnisse" führe (UA S. 70).

3. Diese Bewertung hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Auf Grundlage der getroffenen Feststellungen ist die Annahme einer dem Angeklagten vorwerfbaren Provokation der Notwehrlage und einer damit einhergehenden, den Fahrlässigkeitsvorwurf begründenden Pflichtwidrigkeit rechtsfehlerhaft.

a) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs erfährt das Notwehrrecht unter dem Gesichtspunkt der Gebotenheit der Verteidigung unter anderem dann eine Einschränkung, wenn der Verteidiger gegenüber dem Angreifer ein pflichtwidriges Vorverhalten an den Tag gelegt hat, das bei vernünftiger Würdigung aller Umstände des Einzelfalles den folgenden Angriff als eine adäquate und voraussehbare Folge der Pflichtverletzung des Angegriffenen erscheinen lässt. In einem solchen Fall muss der Verteidiger dem Angriff unter Umständen auszuweichen suchen und darf zur lebensgefährlichen Trutzwehr nur übergehen, wenn andere Abwehrmöglichkeiten erschöpft oder mit Sicherheit aussichtslos sind (BGHSt 26, 143, 145; BGH, Urteil vom 7. Februar 1991 - 4 StR 526/90). Darüber hinaus vermag auch bereits ein sozialethisch zu missbilligendes Vorverhalten das Notwehrrecht einzuschränken, wenn zwischen diesem Vorverhalten und dem rechtswidrigen Angriff ein enger zeitlicher und räumlicher Ursachenzusammenhang besteht und es nach Kenntnis des Täter auch geeignet ist, einen Angriff zu provozieren (vgl. BGH, NStZ 2006, 332, 333; BGHSt 42, 97, 100). Demgegenüber kann ein rechtlich gebotenes oder erlaubtes Tun nicht allein deshalb zu Einschränkungen der Notwehr führen, wenn der Täter wusste oder wissen konnte, dass andere durch dieses Verhalten zu einem rechtswidrigen Angriff veranlasst werden könnten (vgl. BGH NJW 2003, 1955, 1959).

b) Die Feststellungen des Landgerichts belegen nicht, dass der Angeklagte die Notwehrlage in rechtswidriger oder sonst sozialethisch zu missbilligender Weise vorwerfbar provoziert hätte.

Der Angeklagte hat seinen 16jährigen Sohn begleitet, der von einem älteren und, wie die Kammer festgestellt hat, als gewalttätig und leicht reizbar bekannten, von der Polizei als Intensivtäter geführten jungen Mann zu einer Schlägerei "eingeladen" worden war. Der Nebenkläger hatte schon zuvor den Streit mit dem Sohn gesucht, weshalb dieser nicht ohne Grund Angst vor ihm hatte. Vor diesem Hintergrund musste es der Angeklagte nicht dem Zufall überlassen, ob und wann der Nebenkläger wieder auf seinen Sohn treffen würde, und durfte diesen zur Rede stellen. Auch das Auftreten des Angeklagten als solches kann nicht als sozialethisch zu missbilligende, vorwerfbare Provokation gewertet werden. Allein der Umstand, dass er den Türsteher in aufgebrachtem Tonfall aufforderte, den Nebenkläger herauszuschicken, gibt hierfür keinen Anlass, zumal es die H. -Brüder waren, die zuvor dem Sohn des Angeklagten Schläge angekündigt hatten. Das Auftreten des Angeklagten ist auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass er von seinem Sohn und dessen Freunden begleitet wurde, nicht als vorwerfbare Provokation zu werten, denn die Jugendlichen standen abseits und waren - wie der Angeklagte - jedenfalls nicht erkennbar bewaffnet.

Das Verhalten des Angeklagten mochte im gewissen Maße den Geboten der Vorsicht und der Lebensklugheit zuwiderlaufen; eine vorwerfbare Provokation eines rechtswidrigen Angriffs, die zu einer Einschränkung der Notwehrbefugnisse führte, ist darin aber ebenso wenig zu sehen wie eine einen Fahrlässigkeitsvorwurf begründende Pflichtverletzung.

c) Der Angeklagte handelte in Bezug auf den Verletzungserfolg auch nicht deshalb pflichtwidrig, weil er das zur Tat verwendete Butterflymesser mit sich führte. Obgleich seinem Sohn Schläge angekündigt worden waren und der Angeklagte um die Reizbarkeit und Gewalttätigkeit des Nebenklägers wusste, war er nicht verpflichtet, dem Nebenkläger aus dem Weg zu gehen oder diesem nur schutzlos zu begegnen. Auch im Hinblick auf die Möglichkeit eines rechtswidrigen Angriffs des Nebenklägers ist dem Angeklagten kein Vorwurf daraus zu machen, dass er sich nicht von seinem Messer getrennt und sich einer möglichen Aggression des Nebenklägers nicht schutzlos ausliefert hat (vgl. BGH NJW 1980, 2263).

Der Umstand, dass der Angeklagte das Messer vorliegend unter Verstoß gegen § 52 Abs. 3 Nr. 1 WaffG unberechtigt mit sich führte, rechtfertigt keine andere Bewertung. Auch wenn ein Angegriffener eine Waffe unberechtigt führt, ist ihm deren Einsatz nicht verwehrt, wenn ihm kein anderes zur Abwehr des Angriffs geeignetes Mittel zur Verfügung steht (vgl. BGH, NStZ 1986, 357 mwN). Durch Notwehr waren daher nicht nur die gefährliche Körperverletzung und das versuchte Tötungsdelikt gerechtfertigt, sondern auch das Führen des Butterflymessers, soweit dies mit den Verletzungshandlungen unmittelbar zusammenfiel (vgl. BGH, StV 1991, 63, 64).

Auch ein Rückgriff auf das verbotene Führen des Butterflymessers zur Zurechnung des Verletzungserfolgs unter dem Gesichtspunkt fahrlässigen Handelns ist nicht zulässig. Es wäre ein Widerspruch, wenn die Rechtsordnung zum einen die Befugnis erteilte, das Notwehrrecht auszuüben, zum anderen aber gerade für diesen Fall die Bestrafung aufgrund eines Delikts androhte, dessen tatbestandliche Voraussetzungen mit der Ausübung dieser Befugnis erfüllt werden (Erb in MünchKomm - StGB, § 32 Rn. 203; Roxin, ZStW 93 (1981), S. 68, 92). Dies gilt jedenfalls dann, wenn - anders in dem Fall, der der Entscheidung des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs zugrunde lag (NJW 2001, 1075 f. mit abl. Anm. Roxin JZ 2001, 667 f.) - für den Fahrlässigkeitserfolg nicht an eine vorwerfbare Provokation der Notwehrlage angeknüpft werden kann.

Die Feststellungen des Landgerichts bieten daher keine Grundlage für die Verurteilung wegen fahrlässiger Körperverletzung, so dass dieser Schuldspruch entfällt. Es bleibt allein ein Verstoß gegen das Waffengesetz wegen des unerlaubten Führens des Butterflymessers bis zum Eintritt der Notwehrlage als strafbares Verhalten.

4. Der Senat hat den Schuldspruch entsprechend § 354 Abs. 1 StPO selbst geändert. Ergänzende Feststellungen sind nicht zu erwarten. Die Änderung des Schuldspruchs bedingt die Aufhebung der Freiheitsstrafe im Ganzen.

Nach § 406a Abs. 3 Satz 1 StPO ist auch die dem Adhäsionsantrag stattgebende Grundentscheidung aufzuheben, da ihr durch den Wegfall der Verurteilung wegen fahrlässiger Körperverletzung die Grundlage entzogen wurde.

5. Der Senat verweist die Sache an eine allgemeine Strafkammer des Landgerichts zurück, da eine Zuständigkeit der Schwurgerichtskammer nicht mehr begründet ist.