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Bundesgerichtshof

Entscheidung vom 01.02.1961, Az.: 2 STR 457/60

Tenor

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts in Kassel vom 5. Juli 1960 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an das Landgericht zurückverwiesen.

Entscheidungsgründe

Die beiden Angeklagten - damals Studenten der Medizin - waren von August bis Oktober 1958 als sogenannte Famuli in Landkrankenhaus A. tätig. Während dieser Zeit behandelten sie, der Angeklagte P. in sechs Fällen, der Angeklagte M. in zwei Fällen, selbständig Verletzungen und machten Eingriffe bei Patienten, von denen sie für Ärzte gehalten wurden.

Die Strafkammer hat die Angeklagten von den ihnen im Eröffnungsbeschluß zur Last gelegten Vergehen der vorsätzlichen Körperverletzung freigesprochen; sie hat auch den Tatbestand einer fahrlässigen Körperverletzung verneint. Die Revision der Staatsanwaltschaft, die die Sachbeschwerde erhebt, ist begründet.

Zu den Fällen 1 bis 5:

1.)Der Freispruch in den Fällen Nr. 1 bis 5 beruht auf nicht zureichenden Erwägungen zur inneren Tatseite, die zu der Annahme geführt haben, daß die Angeklagten mit einer ihr Verhalten rechtfertigenden Einwilligung der Patienten, und zwar auch ohne Fahrlässigkeit, gerechnet hätten. Was zudem die Strafkammer über die Voraussetzungen des Rechtfertigungsgrundes der Einwilligung ausführt, unterliegt durchgreifenden Bedenken. Es ist nicht auszuschließen, daß hierdurch auch die Beurteilung der inneren Tatseite fehlerhaft beeinflußt ist.

Das Urteil geht davon aus, daß der durch Irrtum über die Arzteigenschaft der Angeklagten beeinflußten Einwilligung der Patienten "an sich" keine rechtfertigende Wirkung zukomme. Die Strafkammer meint aber, es könne Fälle geben, in denen die Vorstellung des Patienten, der ihn Behandelnde sei ein approbierter Arzt, "für seine Einwilligung nicht von entscheidender Bedeutung" sei; weil jeder vernünftige Patient wisse und damit rechne, daß ungefährliche, leichte und routinemäßige Eingriffe häufig oder gar meistens von einem erfahrenen Heilgehilfen vorgenommen werden, sofern dieser das Vertrauen des Arztes genießt, werde er im allgemeinen auch mit einem derartigen Eingriff durch den Nichtarzt einverstanden sein. In solchen Fällen muß nach Ansicht der Strafkammer, mag es oft auch schwierig sein, nachträglich festgestellt werden, was der Patient "gedacht" haben würde, wenn er vorher erfahren hätte, daß ihn kein approbierter Arzt behandele. Sie hat deshalb die betreffenden Patienten darüber befragt, ohne aber von ihnen, wie das Urteil ausdrücklich bemerkt, eine klare Stellungnahme zu erhalten. Infolgedessen ist die Frage der Voraussetzungen des Rechtfertigungsgrundes unentschieden geblieben. Die Strafkammer hat sich auf die Feststellung beschränkt, daß die Angeklagten, da der Chefarzt keine Einwendungen gegen die Heilbehandlung erhoben und damit die volle Verantwortung übernommen habe, geglaubt hätten, es sei den Patienten gleichgültig gewesen, ob sie von approbierten Ärzten versorgt würden.

2.)Diesen rechtlichen Erwägungen des angefochtenen Urteils kann nur teilweise zugestimmt werden. Mit der Strafkammer ist davon auszugehen, daß Willensmängel der Einwilligung regelmäßig die rechtfertigende Kraft nehmen. Wenn daher der Patient denjenigen, dem er den Heileingriff gestattet und anvertraut, irrtümlich für einen approbierten Arzt hält, so fehlt es an einer wirksamen Einwilligung, weil die Erklärung nicht dem wahren Willen des Patienten entspricht. Dies gilt indessen nicht ausnahmslos. Auch darin ist der Strafkammer beizupflichten, daß nicht jede die Einwilligungserklärung begleitende oder motivierende irrige Vorstellung den Rechtfertigungsgrund ausschließt; der Irrtum des Patienten über die Approbation des ihn Behandelnden kann in Ausnahmefällen bedeutungslos sein.

Nicht alle Heileingriffe erfordern die besonderen Kenntnisse des Arztes. In medizinisch ganz einfach liegenden Fällen, z.B. bei geringfügigen Schnitt- und Stoßverletzungen, bei äußerlicher Versorgung einer Wunde oder bei der Anlegung eines Verbandes kann ein anderer Sachkundiger, ein Heilgehilfe oder eine Krankenschwester, die erforderliche Hilfe genau so gut und so sicher wie ein Arzt leisten. Weil hier nach allgemeiner, in der Sache begründeter Auffassung die Frage der ärztlichen Approbation des Behandelnden ganz in den Hintergrund tritt und unwesentlich bleibt, schließt ein Irrtum des Patienten darüber die Rechtfertigung nicht aus. In solchen Fällen umfaßt die Einwilligung ihrem objektiven Sinn nach auch die Behandlung durch einen Nichtarzt. Das gilt insbesondere, wenn sich der Patient zur Versorgung einer geringfügigen Verletzung in ein Krankenhaus begibt. Im einzelnen ist aber noch auf folgendes hinzuweisen:

a)Für die Rechtfertigung des Eingriffs kann es nicht entscheidend sein, in welchem Umfang der Chefarzt seinem Famulus die selbständige Behandlung seiner Patienten "gestattet" hat. Es mag dahingestellt bleiben, wie die Strafkammer ihren mehrfachen Hinweis, Dr. W. habe den Angeklagten die Behandlung unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt und "damit die Verantwortung übernommen", verstanden wissen will. Jedenfalls ist diese Erlaubnis als solche ohne Einfluß auf die Wirksamkeit der Einwilligung, insbesondere auf die Frage der Erheblichkeit des Irrtums der Patienten. Nicht darauf kommt es an, welche Fälle Dr. W. den Angeklagten zur selbständigen Behandlung übertragen zu dürfen glaubte; vielmehr ist allein entscheidend die tatsächliche Geringfügigkeit des Einzelfalls, weil nur sie der Einwilligung den .... Sinn verleiht, daß auch die Behandlung durch einen Nichtarzt gestattet werde. Zum Sonderfall der Einwilligung eines Minderjährigen kann auf BGHSt 12, 379, 382 [BGH 10.02.1959 - 5 StR 533/58] verwiesen werden.

b)Der Patient muß in solchen Fällen die vorbehaltlose Einwilligung als rechtfertigend gegen sich gelten lassen. Es kommt nicht darauf an, daß er etwa nachträglich erklärt, er hätte bei Kenntnis trotz der Geringfügigkeit seiner Verletzung die Versorgung durch einen Nichtarzt abgelehnt. Indem die Strafkammer hierüber gleichwohl durch Vernehmung aller Patienten Beweis erhoben hat, wollte sie möglicherweise auf den Rechtfertigungsgrund der mutmaßlichen Einwilligung abstellen. Dieser betrifft jedoch nur notstandsähnliche Fälle, in denen die Einholung der Einwilligung entweder unmöglich oder zwecklos ist. Davon kann hier keine Rede sein; denn die Angeklagten hätten die Patienten ohne weiteres vor der Behandlung über die Sachlage unterrichten und ihre ausdrückliche Entscheidung herbeiführen können.

c)Die Rechtfertigung des Heileingriffs ist ferner daran gebunden, daß der Nichtarzt die Geringfügigkeit der Krankheit oder Verletzung selbst beurteilen kann und daß er die notwendige Sachkunde für die Behandlung besitzt. Davon, daß die Angeklagten über beides verfügten, ist die Strafkammer wohl ausgegangen, indem sie auf die Anordnung des leitenden Arztes hinweist, in der er seinen Famuli nach einer, wenn auch kürzeren, Beobachtungszeit gewisse kleinere, nicht schwierige, einfach liegende falle zur selbständigen Behandlung anvertraute. Immerhin bleibt insofern unklar, ob unter "Verabreichung einer Spritze" nur eine solche nach Anweisung eines approbierten Arztes im Einzelfall zu verstehen war oder ob damit auch die Entscheidung über die Verabreichung und die Art der Einspritzung den Angeklagten übertragen werden sollte. Dagegen bestünden sehr erhebliche Bedenken; denn nicht alles, was bei einer solchen Entscheidung bedacht werden muß, ist für einen Famulus überschaubar; nicht selten hängt sie von dem speziellen Krankheitsbild ab und erfordert die Kenntnis des approbierten Arztes.

d)Schon hieraus ergibt sich, daß zwar ausnahmsweise die Einwilligung in die Behandlung dem objektiven Sinn nach auch die Behandlung durch einen Nichtarzt umfassen kann, daß aber diesen Ausnahmen enge grenzen gesetzt sind. Eine weitere Beschränkung folgt aus der Erwägung, daß irgendwie zweifelhafte Fälle keinesfalls durch die Einwilligung gedeckt sein können. Schon jeder objektive Zweifel an der Geringfügigkeit der Krankheit oder Verletzung schließt die Wirksamkeit der Einwilligung ebenso aus, wie ein Zweifel, der sich gegen die Beurteilungsfähigkeit oder die Sachkunde des Nichtarztes richtet. Wenn man überhaupt der Einwilligung des Patienten eine umfassendere Wirksamkeit beimißt, als seiner Vorstellung entspricht, so darf doch diese Ausnahme nicht über den Bereich der zweifelsfrei sicheren Fälle hinaus ausgedehnt werden. Praktisch kommen also nur so einfach liegende Fälle in Betracht, daß bereits das äußere Erscheinungsbild der Erkrankung oder Verletzung nicht nur ihre Ungefährlichkeit zeigt, sondern auch sicher erkennen läßt, daß für die Behandlung oder Versorgung der Wunde nicht die Kenntnis eines ausgebildeten Arztes erforderlich ist. Daß sich im übrigen der Nichtarzt jedes Eingriffes zu enthalten hat, wenn der Patient ausdrücklich die Behandlung durch einen Arzt verlangt, bedarf keiner weiteren Erörterung.

e)Aus diesen Gesichtspunkten ergeben sich gewisse Folgerungen für die innere Tatseite. Was die Strafkammer insoweit ausgeführt hat, reicht zu einer abschließenden Beurteilung keinesfalls aus. Der Satz, daß die Angeklagten mit einer ihr Verhalten rechtfertigenden Einwilligung der Patienten gerechnet hätten, läßt nicht erkennen, von welchen Vorstellungen die Angeklagten hierbei ausgegangen sind. Das Urteil sagt nur, daß sie geglaubt hätten, es sei den Patienten einerlei, ob sie - die Angeklagten - schon approbierte Ärzte seien. Es ist aber weder ersichtlich, worauf sie ihre Annahme gestützt haben sollen, noch kann die rechtliche Tragweite dieser Annahme beurteilt werden, solange nicht festgestellt ist, welche Vorstellungen die Angeklagten über die zuvor erörterten Voraussetzungen einer wirksamen Einwilligung hatten. Sollte sich ergeben, daß die Angeklagten bewußt Verletzungen behandelt haben, die nicht zweifelsfrei geringfügig waren, dann dürfte ein Tatbestandsirrtum, der eine vorsätzliche Körperverletzung ausschließt, nicht in Betracht kommen. Dagegen ist die Möglichkeit eines Verbotsirrtums nicht von der Hand zu weisen. Die Angeklagten können insbesondere geglaubt haben, daß die Wirksamkeit der Einwilligung nicht auf zweifelsfrei geringfügige Fälle beschränkt sei, oder daß sie zur Behandlung deshalb befugt seien, weil ihnen der leitende Arzt Fälle dieser Art allgemein anvertraut habe. Sie hätten dann über das Bestehen oder die Reichweite eines Rechtfertigungsgrundes geirrt. Sofern ein solcher Verbotsirrtum verschuldet ist, hindert er die Verurteilung wegen vorsätzlicher Körperverletzung nicht, sondern mindert unter Umständen nur den Schuldvorwurf (BGHSt 2, 194 [BGH 18.03.1952 - GSSt - 2/51];  12, 379, 383) [BGH 10.02.1959 - 5 StR 533/58].

3.)Die Strafkammer wird in der neuen Hauptverhandlung jeden der Fälle Nr. 1 bis 5 unter den erörterten Gesichtspunkten zu prüfen haben. Die bisherigen Feststellungen sprechen dagegen, daß es sich um zweifelsfrei einfach liegende Fälle gehandelt hat. Die Wunden wurden nicht nur nach Ausspülung mit Einzelknopfnähten verschlossen, vielmehr zum Teil auch eine örtliche Betäubung mit Novocain vorgenommen. Im Falle 3 hatte der Angeklagte P. sogar eine Äthernarkose angeordnet, an deren Stelle auf Bitten der Mutter der Patientin eine Evipanspritze gegeben wurde. Im Falle 5 verabreichte P. eine Tetanusspritze und verschloß die teilweise geöffnete Gelenkhohle des Kniees durch drei Katgutnähte. Daß einem Famulus die Entscheidung über eine Äthernarkose, über Evipan- oder Tetanus spritzen zusteht oder daß er eine offene Gelenkhöhle selbständig behandeln darf, ist wohl auszuschließen. Allerdings wird hier die eigene Sachkunde des Gerichts für die abschließende Beurteilung nicht genügen; die Vernehmung eines Sachverständigen wird erforderlich sein. Insofern besteht Veranlassung, auf die Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in BGHSt 8, 113 und 12, 379, 384 hinzuweisen. Der Sachverständige hat sich gutachtlich nur zu äußern über den Krankheitsbefund und die gebotene Behandlung sowie darüber, welche Kenntnisse und Fähigkeiten hierzu erforderlich waren, und ob die Angeklagten diese besaßen. Die Entscheidung, ob hiernach ein so einfacher Fall vorlag, daß die Einwilligung des Patienten auch die Behandlung durch den Nichtarzt umfaßte, hat das Gericht zu treffen.

Zum Fall 6:

Im September 1958 schnitt sich Frau Katharina K. mit einer Sense so heftig und unglücklich in den Spann des linken Fußes, daß hierbei die Sehnen durchtrennt wurden. Der an die Unfallstelle gerufene Arzt versorgte die Wunde und brachte Frau K. gegen 17 Uhr in das Landkrankenhaus. Er machte bei der Einlieferung keine näheren Angaben über seinen Befund und über seine bisherigen Maßnahmen. Daß die Sehnen durchschnitten waren, hatte er nicht festgestellt. Zur fraglichen Zeit waren im Krankenhaus außer zwei Schwestern und einem Pfleger nur die beiden Angeklagten anwesend. Sie nahmen sich der Patientin an und fanden nach Entfernung des Verbandes eine starke arterielle Blutung vor. Bei der näheren Untersuchung stellten sie fest, daß die Sehnen zerschnitten waren. Da ihnen das sich darbietende Bild äußerst gefährlich erschien, nahm der Angeklagte P. unter Beistand des Mitangeklagten M. eine Verbindung der Sehnen vor. Auch Frau K. hielt die Angeklagten für Ärzte. Das Operationsbuch enthält u.a. den Eintrag: "TAT vom Pferd, Tetanol 5 ccm Cormamin, 1 g Evipan, 300 gr. Ether." Bei einer später notwendigen Operation stellte sich heraus, daß die Sehnennahte gerissen waren. Frau K. ist an dem Gebrauch ihres Fußes noch stark behindert.

Es bedarf keiner näheren Erörterung, daß hier eine Verletzung vorlag, deren Behandlung, wie die Strafkammer selbst ausführt, die Grenzen überschritt; in denen die Angeklagten als Famuli tätig werden durften; denn eine wirksame Einwilligung lag keinesfalls vor. Es ist sogar zweifelhaft, ob die Angeklagten befugt gewesen wären, die Behandlung zu übernehmen, wenn sie die Verletzte vorher darüber aufgeklärt hätten, daß sie keine ausgebildeten Ärzte, sondern Medizinstudenten waren, und wenn sich die Verletzte gleichwohl mit der Behandlung einverstanden erklärt hätte; denn eine Einwilligung, deren Tragweite vom Patienten nicht übergehen werden kann, ist regelmässig unwirksam. Im übrigen gibt das Urteil keinen Anhaltspunkt dafür, daß die Angeklagten keine Zeit und keine Möglichkeit der Aufklärung hatten; Frau K. war bei der Einlieferung nicht bewußtlos, wie sich daraus ergibt, daß sie nach den Feststellungen in großer Angst schwebte und die beiden Angeklagten bat, ihr doch ja zu helfen. Es kann daher dahingestellt bleiben, zu welchem Zeitpunkt die Angeklagten die Schwere der Verletzung und die Notwendigkeit einer Sehnenverbindung erkannten. Daß kein geringfügiger Fall vorlag, stand von vornherein fest. Die Angeklagten durften also die Behandlung gar nicht übernehmen, geschweige denn die Patientin in Vollnarkose versetzen, ohne sie vorher aufzuklären. Für den Gesichtspunkt des übergesetzlichen Notstandes, auf den die Strafkammer abstellt, ist daher kein Raum. Die Angeklagten mögen sich einer Notstandslage gegenüber gesehen haben, nachdem sie die Behandlung begonnen und bestimmte ärztliche Eingriffe vorgenommen hatten. Damit können aber diese Eingriffe nicht nachträglich gerechtfertigt werden. Daß nicht von vornherein eine Notstandslage bestand, ergeben die Feststellungen: Die Angeklagten konnten einen Arzt aus Ko. um Übernahme der Behandlung ersuchen, der hierzu binnen gebotener Zeit in der Lage gewesen wäre.