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Bundesgerichtshof

Entscheidung vom 07.11.1986, Az.: 2 STR 494/86

Tenor

Auf die Revisionen der Angeklagten F., Ralf R. und Barbara R. wird das Urteil des Landgerichts Trier vom 25. April 1986, auch soweit es die Angeklagte L. betrifft, aufgehoben.

Die Angeklagten werden freigesprochen.

Die Kosten des Verfahrens und die den Angeklagten erwachsenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.

Entscheidungsgründe

I.Die Angeklagten bezogen Anfang 1984 gemeinsam ein von ihnen gemietetes altes Bauernhaus. Mit ihrem Einverständnis nahm auch der Freund der Angeklagten L., Helmut M., in dem Haus Wohnung. Als sich kurze Zeit nach dem Einzug das Verhältnis zwischen der Angeklagten L. und M. verschlechterte, wurde M. immer streitsüchtiger. Er nahm vermehrt Alkohol zu sich, wurde insbesondere in betrunkenem Zustand aggressiv, schlug Krach im Haus und drangsalierte auch die beiden Kinder der Angeklagten L., die mit in der Wohngemeinschaft lebten. Zusammen mit Alkohol nahm er auch Tabletten, was er damit begründete, daß dies eine "anturnende" Wirkung habe. Oft führte er Selbstgespräche, mehrfach stellte er sich tot, wiederholt drohte er damit, sich das Leben zu nehmen. Seiner Verpflichtung zu anteilsmäßiger Kostentragung und Mitarbeit kam er immer weniger nach. Auf das Ansinnen, das Haus zu verlassen, reagierte er nicht.

Am 6. April 1984 kam es schon beim gemeinsamen Frühstück wiederum zu Streit. Im Tagesverlauf zeigte M. sein gewohntes Verhalten. Er suchte Streit, trank Bier und nahm auch 20 Tabletten eines ärztlich verschriebenen Medikaments ein. Gegen 23 Uhr verließ er das Haus und begab sich in eine Gaststätte, von wo ihn zwei Männer etwa um 1.30 Uhr zurückbrachten. Die Angeklagten F., Ralf R. und Barbara R. hatten den Eindruck, daß er "mehr hing, als er stehen konnte", stark betrunken und körperlich "total fertig" war. Fischer und Ralf R. schleppten ihn die Treppe hoch und legten ihn ins Bett. Etwa 20 Minuten später erschien er wieder in der Küche, wo die anwesenden Angeklagten, die auf die Rückkehr der abwesenden Angeklagten L. warteten, beim Fernsehen saßen. Er stieß eine kleine Badewanne um und fiel dabei zu Boden, wo er wieder "toter Mann" spielte. Als der Angeklagte F. ihn anstieß, stand er jedoch auf, zog sich seine naß gewordene Oberbekleidung aus und fing erneut an zu "stänkern". Etwa um 2 Uhr wollte er das Zimmer der Kinder betreten, um diese zu wecken und zu fragen, wo ihre Mutter sei. Die Angeklagte R. konnte ihn davon abhalten. Dabei sagte sie zu ihm, daß er noch in der gleichen Nacht aus dem Haus geworfen werde, wenn er sich nicht beruhige.

Kurze Zeit später stellte M. die Stereoanlage in seinem Zimmer auf volle Lautstärke. Der Angeklagte R. ging in das Zimmer und stellte das Gerät ab, indem er das Stromkabel und die Lautsprecherstecker herauszog. Inzwischen betrat die zurückkehrende Angeklagte L. das Haus. M., der bis auf die Unterhose entkleidet war, stürzte auf sie zu und machte ihr lautstark Vorwürfe. L. erklärte, jetzt nicht mit ihm reden zu wollen, und ging mit den anderen nach oben. Auch auf die Angeklagte L. machte M. den Eindruck eines Betrunkenen, obwohl sein Rausch inzwischen merklich abgeklungen war."M. ging tobend in sein Zimmer und stellte erneut das Radio auf volle Lautstärke. Sämtliche Angeklagten einschließlich des zwischenzeitlich aus seinem Zimmer hinzugekommenen Lambert F. forderten nunmehr M. auf, endlich Ruhe zu geben, oder das Haus zu verlassen. Als dieser der Aufforderung keine Folge leistete, beschlossen die Angeklagten gemeinsam, ihn gegen seinen Willen vor die Tür zu setzen. Lambert F. und Ralf K. (jetzt R.) versuchten längere Zeit vergeblich, ihn mit Gewalt anzuziehen. Dies gelang ihnen nicht, da M. um sich trat und schlug. Schließlich schleppten sie ihn die Treppe hinunter ins Erdgeschoß, wo sie erneut vergeblich versuchten, ihn anzuziehen. Währenddessen verpackten die Angeklagten Barbara R. und Ulrike L. die Habseligkeiten M. in zwei Koffer und eine Umhängetasche. Nach einer letzten, erfolglosen Aufforderung, sich anzuziehen, setzten Lambert F. und Ralf K. M. schließlich gegen 2.30 Uhr vor die Haustür und stellten die Gepäckstücke draußen auf die Treppe. Auf einen Koffer legten sie zusätzlich eine Jeanshose, ein Hemd, einen Pullover, Strümpfe, Stiefel und einen von Ralf K. zur Verfügung gestellten Parka ab, damit M. sich draußen anziehen könne. Sodann schlössen Ralf K. und Lambert F. die Haustür von innen ab. Barbara R. und Ulrike L. stellten ein Schränkchen vor die aus dem Erdgeschoß in den Keller führende Tür, um M. auch hier den Zugang zum Haus unmöglich zu machen"(UA S. 16).

In dieser Zeit herrschten Temperaturen zwischen einem und drei Grad Celsius, die in Bodennähe bis zum Gefrierpunkt absanken.

M. fing draußen sofort an zu schreien und zu flehen, man möge ihn doch wieder ins Haus lassen, ihm sei kalt. Die Angeklagten, die das hörten, blieben zunächst eine halbe Stunde im Zimmer der Angeklagten L.. Während dieser Zeit hörten sie M. weiterhin rufen, Drohungen ausstoßen und an die Tür treten. Schließlich begaben sie sich in ihre Zimmer, um zu schlafen. Während der nächsten Stunden hörten sie mit Ausnahme des Angeklagten F. daß M. immer noch abwechselnd schrie, jammerte und schimpfte. Der Angeklagte Ralf R. sah im Laufe der Nacht aus einem Fenster, daß M. entweder auf der Hauseingangstreppe oder der draußen zum Keller führenden Treppe saß und nach wie vor lediglich mit der Unterhose bekleidet war.

M. verstarb in den Morgenstunden des 7. April 1984, vermutlich in der Zeit zwischen 7 und 9 Uhr, an Unterkühlung, da er sich bis zu diesem Zeitpunkt nicht angezogen hatte.

II.Die Strafkammer hat die Angeklagten wegen - durch Unterlassen begangener - fahrlässiger Tötung zu Freiheitsstrafen von jeweils sechs Monaten verurteilt und die Vollstreckung der Strafen zur Bewährung ausgesetzt. Hiergegen haben die Angeklagten F., Ralf R. und Barbara R. Revision eingelegt. Die Rechtsmittel haben mit der Sachbeschwerde Erfolg: die Angeklagten sind aus rechtlichen Gründen freizusprechen.

Die Angeklagten nahmen, anders als die Strafkammer meint, gegenüber M. keine Garantenstellung ein, auf Grund deren sie rechtlich verpflichtet waren, für M. nach seiner Aussperrung aus dem Haus zu handeln und dadurch Gefahren von ihm abzuwenden (§ 13 StGB). Eine solche Rechtspflicht ist weder aus dem gemeinsamen Bewohnen des Hauses noch aus vorangegangenem Tun der Angeklagten herzuleiten.

Auf Grund der Wohngemeinschaft hätte eine Rechtspflicht nur bestanden, wenn die Angeklagten M. gegenüber eine besondere Schutzfunktionübernommen oder auf andere Weise erlangt hätten (vgl. BGH NStZ 1983, 117; 1984, 163). Diese Voraussetzung ist nach den Feststellungen nicht erfüllt.

Auch durch vorangegangenes Tun ist eine Garantenstellung der Angeklagten nicht begründet worden. Sie haben zwar - nur darin könnte ein Tun in dem hier fraglichen Sinn gesehen werden - M. gewaltsam aus dem Haus entfernt und ihm dann den Wiederzutritt verwehrt. Dabei haben sie jedoch in einer Notwehrsituation und deshalb rechtmäßig gehandelt: M. hatteüber längere Zeit hinweg durch sein Betragen - Lärmen, Toben, "Stänkern", drohende Belästigung der Kinder - den Hausfrieden und das geordnete Zusammenleben der Hausbewohner empfindlich gestört und machte alle Anstalten, damit auch fortzufahren; sein aggressives Verhalten hatte schließlich ein solches Ausmaß erreicht, daß die Angeklagten zu sofortigen Gegenmaßnahmen greifen durften, um weitere erhebliche Belästigungen auszuschließen.

Daß sie den Ausweg gewählt haben, M. aus dem Haus zu entfernen, stand angesichts der vom Landgericht festgestellten Begleitumstände zu dem Angriffsverhalten M. nicht außer Verhältnis. Die Angeklagten haben nach ihren vergeblichen Versuchen, M. anzukleiden, diesen nicht etwa ungeschützt der kalten Witterung ausgesetzt, sondern alles Notwendige getan, um M. die Möglichkeit zu geben, sich selbst vor körperlichen Schäden zu bewahren. Sie haben ihn ausreichend mit wärmender Kleidung versehen und ihn überdies an eine Stelle gebracht, von der aus er ohne Schwierigkeiten einen geschützten Raum - etwa den offenstehenden Keller (UA S. 18) - erreichen konnte.

Dafür, daß M. selbst zu einfachsten Schutzmaßnahmen wie dem Anlegen von Kleidung außerstande war, und daß die Angeklagten dies erkannt haben könnten, bieten die Feststellungen keinen Anhalt. Immerhin hatte er sich nach dem Vorfall mit der kleinen Badewanne, also kurze Zeit vor der Aussperrung, vom Boden erheben und selbst seiner durchnäßten Kleidung entledigen können. Imübrigen konnte er nach der Aussperrung Drohungen ausstoßen und an die Tür treten.

Da die Angeklagten M. in Ausübung gebotener Notwehr ausgesperrt haben, waren sie nicht verpflichtet, in der Folgezeit für ihn tätig zu werden. Daran ändert nichts, daß der Angeklagte R. später, allerdings zu einem nicht mehr feststellbaren Zeitpunkt, M. noch einmal unbekleidet auf dem Koffer sitzen sah.

Aus allen diesen Erwägungen folgt, daß fahrlässige Tötung durch Unterlassen ebenso wie fahrlässige Tötung durch positives Tun der Angeklagten ausscheidet. Da auszuschließen ist, daß zum Tatgeschehen noch weitere Feststellungen getroffen werden können, hat der Senat von einer Zurückverweisung der Sache abgesehen und selbst auf Freispruch erkannt.

III.Gemäß § 357 StPO ist das freisprechende Urteil auf die Angeklagte L., die nicht Revision eingelegt hat, zu erstrecken.