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Bundesgerichtshof

Entscheidung vom 09.06.2009, Az.: 4 STR 170/09

Entscheidungsgründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt, seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet und bestimmt, dass von der Strafe ein Jahr und drei Monate vor der Unterbringung zu vollziehen sind. Mit seiner Revision rügt der Angeklagte die Verletzung formellen und sachlichen Rechts. Das Rechtsmittel ist aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

Der Erörterung bedarf lediglich die Verfahrensrüge, soweit die Revision mit ihr beanstandet, die Strafkammer habe Angaben des Angeklagten gegenüber der Polizei, insbesondere solche aus Anlass seiner Vernehmung am 22. August 2008, verwertet, ohne dass dieser gemäß § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO belehrt worden sei.

1. Die Revision trägt hierzu folgenden Verfahrensablauf vor:

Noch in der Tatnacht habe der Angeklagte in Begleitung seiner Ehefrau die Polizeiwache in D. aufgesucht, um sich zu stellen. Ohne vorherige Belehrung über seine Rechte als Beschuldigter habe er die Tat zugegeben, woraufhin er wegen des dringenden Verdachts eines Tötungsdelikts vorläufig festgenommen worden sei. Er sei dann mit einem Polizei-Pkw zur Kreispolizeibehörde in H. gebracht worden und habe auf der Fahrt gegenüber den Polizeibeamten Einzelheiten des Tatgeschehens geschildert. Erst dort seien ihm nach ärztlicher Feststellung seiner Vernehmungsfähigkeit von den Kriminalbeamten L. und R. unter erneuter Eröffnung des Tatvorwurfs seine Rechte als Beschuldigter erläutert worden. Der Angeklagte habe daraufhin erklärt, den Polizeibeamten doch schon alles gesagt zu haben; er wolle jetzt keine Aussage mehr machen, sondern alles über seinen Anwalt regeln. Von dem Kriminalbeamten L. sinngemäß darauf hingewiesen, eine mögliche Aussage könne auch seiner Entlastung dienen und entlastende Angaben könnten bei der - zum damaligen Zeitpunkt noch andauernden - Spurensuche am Tatort berücksichtigt werden, habe der Angeklagte geäußert, dann könne er auch jetzt einfach alles erzählen. Die umfangreichen Angaben des Angeklagten wurden sodann von den vernehmenden Beamten in einem Vermerk niedergelegt.

Das Landgericht hat die Einlassung des Angeklagten, er habe den Geschädigten zu keinem Zeitpunkt lebensbedrohlich verletzen wollen, sondern sich lediglich gegen dessen Schläge und Tritte gewehrt, als widerlegt angesehen. Seine Überzeugung, der Angeklagte habe mit seinem Messer zielgerichtet und deshalb zumindest mit bedingtem Tötungsvorsatz auf den Oberkörper des Geschädigten eingestochen, hat es auch auf die Bekundungen der in der Hauptverhandlung vernommenen Kriminalbeamtin R. gestützt. Diese hat in der Hauptverhandlung u.a. über die in ihrem Vermerk niedergelegten Angaben des Angeklagten vom 22. August 2008 ausgesagt. Insoweit hat der Angeklagte der Vernehmung widersprochen und einen Gerichtsbeschluss herbeigeführt.

2. Allerdings hätte der Angeklagte, wie die Revision zutreffend ausführt, nicht erst durch die Kriminalbeamten L. und R., sondern schon zu einem früheren Zeitpunkt gemäß § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO belehrt werden müssen. Gegen die Verwertung der Aussage der Kriminalbeamtin R. auch hinsichtlich der Angaben des Angeklagten in der Beschuldigtenvernehmung vom 22. August 2008 bestehen keine durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

a) Die Belehrung nach § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO soll sicherstellen, dass ein Beschuldigter nicht im Glauben an eine vermeintliche Aussagepflicht Angaben macht und sich damit unfreiwillig selbst belastet (vgl. BGHSt [GS] 42, 139, 147; BayObLG NStZ-RR 2001, 49, 51). Für den Fall der von einem Polizeibeamten durchgeführten Befragung von Auskunftspersonen ist nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum einen die Stärke des Tatverdachts, den der Beamte gegenüber dem Befragten hegt, bedeutsam für die Entscheidung, von welchem Zeitpunkt an die Belehrung nach § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO erforderlich ist (BGHSt 38, 214, 227 f.). Hierbei hat der Beamte einen Beurteilungsspielraum, den er freilich nicht mit dem Ziel missbrauchen darf, den Zeitpunkt der erforderlichen Belehrung möglichst weit hinauszuschieben (BGH aaO; vgl. auch BGH NStZ 1983, 86). Daneben ist zum anderen von Bedeutung, wie sich das Verhalten des Beamten aus Sicht des Befragten darstellt. Polizeiliche Verhaltensweisen wie die Mitnahme eines Befragten zur Polizeiwache, die Durchsuchung seiner Wohnung oder seine vorläufige Festnahme belegen dabei schon ihrem äußeren Befund nach, dass der Polizeibeamte dem Befragten als Beschuldigten begegnet, mag er dies auch nicht zum Ausdruck bringen (BGHSt 38, 214, 228; 51, 367, 370 f.).

Ob die vorstehend dargelegten Grundsätze ohne Einschränkung auch dann gelten, wenn der Polizeibeamte keine gezielte Befragung durchführt, sondern lediglich passiv spontane Äußerungen eines Dritten entgegennimmt, mit denen sich dieser selbst belastet, ist in der Rechtsprechung bislang nicht abschließend geklärt. Eine Verwertbarkeit solcher Äußerungen trotz fehlender Belehrung über die Beschuldigtenrechte wird in der Regel für zulässig gehalten, wenn keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass Belehrungspflichten nach § 136 Abs. 1 Satz 2, 163 a Abs. 2 Satz 2 StPO gezielt umgangen wurden, um den Betroffenen zu einer Selbstbelastung zu verleiten (BGH NStZ 1983, 86; BGH NJW 1990, 461; vgl. auch BayObLG aaO; OLG Oldenburg NStZ 1995, 412; Gleß in Löwe/Rosenberg, StPO 26. Aufl. § 136 a Rn. 16; Meyer-Goßner, StPO 52. Aufl. § 136 a Rn. 4).

b) Dieses erschiene jedoch zumindest dann bedenklich, wenn sich - wie hier von der Verteidigung behauptet - Polizeibeamte von einem Tatverdächtigen nach pauschalem Geständnis einer schweren Straftat und der unmittelbar darauf erfolgten Festnahme über eine beträchtliche Zeitspanne Einzelheiten der Tat berichten ließen, ohne den von ihnen ersichtlich als Beschuldigten behandelten Täter auf sein Aussageverweigerungsrecht hinzuweisen. Ein solches Verhalten käme einer gezielten Umgehung zumindest äußerst nahe.

Einer näheren Aufklärung des Verhaltens der Polizeibeamten im Freibeweisverfahren bedarf es jedoch nicht, da das Urteil auf einem etwaigen Verfahrensverstoß nicht beruht. Die Angaben des Angeklagten gegenüber den Polizeibeamten bis zu seiner Ankunft in der Kreispolizeibehörde H. hat das Landgericht der Urteilsfindung nicht zu Grunde gelegt.

3. Gegen die Verwertung der Aussage der Zeugin R. bestehen zumindest im Ergebnis keine Bedenken.

a) Zwar hätte der Angeklagte - den Verfahrensverstoß unterstellt - zu Beginn seiner Beschuldigtenvernehmung durch die Kriminalbeamten L. und R. am 22. August 2008 zusammen mit der Belehrung nach § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO darauf hingewiesen werden müssen, dass wegen der bis dahin unterbliebenen Belehrung die zuvor gemachten Angaben unverwertbar seien (sog. qualifizierte Belehrung; vgl. BGH StV 2007, 450, 452, insoweit in BGHSt 51, 369 nicht abgedruckt; Senatsbeschluss NStZ 2009, 281). Daraus, dass dies nicht geschehen ist, würde jedoch nicht ohne Weiteres folgen, dass auch die Angaben, die der Angeklagte nach erfolgter Belehrung über seine Rechte als Beschuldigter gegenüber den beiden Vernehmungsbeamten gemacht hat, einem Beweiserhebungs- und Verwertungsverbot unterlagen. Nach der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs soll die in einem solchen Fall erforderliche (qualifizierte) Belehrung verhindern, dass ein Beschuldigter auf sein Aussageverweigerungsrecht nur deshalb verzichtet, weil er möglicherweise glaubt, eine frühere, unter Verstoß gegen die Belehrungspflicht aus § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO zustande gekommene Selbstbelastung nicht mehr aus der Welt schaffen zu können. Da der Verstoß gegen die Pflicht zur qualifizierten Belehrung nicht dasselbe Gewicht wie der Verstoß gegen die Belehrung nach § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO hat, ist in einem solchen Fall die Verwertbarkeit der weiteren Aussagen nach erfolgter Beschuldigtenbelehrung durch Abwägung im Einzelfall zu ermitteln (BGH StV 2007, 450, 452; Senatsbeschluss aaO). Die Abwägung ist unter Berücksichtigung des Interesses an der Sachaufklärung einerseits sowie des Gewichts des Verfahrensverstoßes andererseits vorzunehmen (Senatsbeschluss aaO m.w.Nachw.). Sie ergibt hier, dass das Landgericht an einer Verwertung nicht gehindert war.

b) Eine bewusste Umgehung der Belehrungspflichten auf der Polizeiwache in D. sowie auf dem Transport des Angeklagten nach H. ist nicht ersichtlich und wird auch von der Revision nicht behauptet. Es spricht auch nichts dafür, dass der Angeklagte zum Zeitpunkt der Belehrung über seine Rechte als Beschuldigter annahm, er könne von seinen Angaben gegenüber den im Polizei-Pkw anwesenden Beamten nicht mehr abrücken. Die anfänglich fehlende Aussagebereitschaft des Angeklagten sowie sein Hinweis auf die von ihm gewünschte Einschaltung eines Rechtsanwalts sind für eine solche Annahme ebenso wenig tragfähig wie seine Bemerkung, "dann könne er auch alles erzählen". Vielmehr rechtfertigt das von der Revision mitgeteilte Verfahrensgeschehen die Annahme des Landgerichts, wonach die Vernehmungsbeamten dieser Äußerung des Angeklagten dessen freiwilligen Entschluss entnehmen durften, nunmehr umfassend auszusagen.

Zu einer solchen Aussage ist der Angeklagte auch nicht in unzulässiger Weise gedrängt worden. Weder die Strafprozessordnung noch der verfassungsrechtlich verankerte Grundsatz eines fairen Verfahrens verbieten es, eine Vernehmung im Anschluss an eine anfängliche Aussageverweigerung fortzusetzen, solange nicht mit verbotenen Mitteln auf die Willensfreiheit des zu Vernehmenden und die Durchsetzbarkeit seines Aussageverweigerungsrechts eingewirkt wird (BGHSt 42, 170). Solche Mittel haben die Vernehmungsbeamten nicht eingesetzt.

Die Bemerkung des Kriminalbeamten L. zur möglicherweise entlastenden Wirkung einer Aussage, verbunden mit dem Hinweis auf die Möglichkeit der Verifikation von Einzelheiten während der noch andauernden Spurensuche am Tatort, stellte ersichtlich keine Irreführung dar. Es handelte sich vielmehr um einen neutralen, nach Lage der Dinge zumindest nicht fern liegenden Hinweis auf die möglichen Nachteile des Schweigens. Der Angeklagte, der sich einem schweren Tatvorwurf ausgesetzt sah, war so in der Lage, die möglichen Vorteile einer Verteidigung durch Einlassung zur Sache zu erfassen und zwischen Aussage und Schweigen eine informierte Entscheidung zu treffen (vgl. dazu Gleß in Löwe/Rosenberg, StPO 26. Aufl. § 136 Rn. 34).

[Redaktioneller Hinweis: Zur verfehlt erscheinenden Ablehnung eines Verwertungsverbots bei der unterbliebenen qualifizierten Belehrung vgl. Roxin HRRS 2009, 186 ff.]