Bundesgerichtshof
Entscheidung vom 09.07.1965, Az.: 4 STR 191/65
Tenor
Ein Kraftfahrer, der, ohne selbst Anlieger zu sein, ein unbebautes Grundstück betreten oder benutzen will, das an einer nur für den Anliegerverkehr freigegebenen Straße gelegen ist, ist zum "Anliegerverkehr" auf dieser Straße befugt, wenn der (verfügungsberechtigte) Anlieger das Betreten oder Benutzen des Grundstücks allgemein oder im besonderen Fall ausdrücklich oder stillschweigend gestattet hat.
Entscheidungsgründe
Der Angeklagte fuhr mit seinem Personenkraftwagen auf einem von unbebauten Grundstücken umgebenen Weg, der mit dem amtlichen Verkehrszeichen nach Bild 11 der Anlage zur StVO - Verkehrsverbot für Fahrzeuge aller Art - mit der Zusatztafel "Anlieger frei" gekennzeichnet war. Er wollte zu einer nur so erreichbaren, am Wege gelegenen und an die Ruhr angrenzenden Wiese gelangen. Dort stellte er seinen Wagen ab und schlug sein Zelt auf.
Das Amtsgericht in Witten hat den Angeklagten wegen Übertretung des § 3 StVO nach § 21 StVG zu einer Geldstrafe verurteilt, weil der Grundeigentümer dem Angeklagten nicht erlaubt habe, auf der Wiese sein Zelt aufzuschlagen. Das Oberlandesgericht Hamm möchte der Revision des Angeklagten stattgeben, weil es auch eine allgemeine ausdrücklich oder stillschweigend erteilte Genehmigung des Verfügungsberechtigten zur Benutzung der Wiese für ausreichend hält. An dieser Entscheidung sieht es sich durch die Urteile des OLG Köln vom 9. April 1963 (VRS 25, 367 = JMBl NRW 1963, 207) und des OLG Celle vom 12. November 1962 (VRS 25, 364 - VerkMitt 1963, 36 = Nds Rpfl 1963, 24) gehindert. Es hat deshalb die Sache dem Bundesgerichtshof zur Entscheidung vorgelegt,"ob ein Kraftfahrer, der ein an einer für den Durchgangsverkehr gesperrten Straße gelegenes unbebautes Grundstück betreten bzw. benutzen will, das hierfür durch allgemeine oder besondere Gestattung des Eigentümers, Besitzers u. dgl. freigegeben ist, zum Anliegerverkehr auf dieser Straße berechtigt sei."
Die Vorlegung ist nach § 121 Abs. 2 GVG zulässig. Die vom vorlegenden Gericht beabsichtigte Entscheidung widerspricht jedenfalls der Entscheidung des Oberlandesgerichts Celle.
Der Bundesgerichtshof tritt der Meinung des vorlegenden Oberlandesgerichts bei.
Die straßenverkehrsrechtlichen Bestimmungen umschreiben weder den Begriff des "Anliegers" noch den des "Anliegerverkehrs", Deshalb ist die Bedeutung dieser Begriffe nach dem Sprachgebrauch und der bisherigen Übung zu ermitteln (OLG Köln VRS 17, 387, 388). Danach wird die Anliegereigenschaft durch rechtliche Beziehungen zu den an die gesperrte Straße anliegenden bebauten oder unbebauten, auf andere Weise nicht zugänglichen Grundstücken oder den auf ihnen errichteten Anlagen bestimmt (Koch DAR 1962, 144). Sie ist nicht auf dinglich oder schuldrechtlich Berechtigte (Eigentümer, Pächter, Mieter u. dgl.) beschränkt (so OLG Celle a.a.O.), sondern erstreckt sich auch auf Personen, die aus sonstigem Gründe - öffentlichrechtlicher oder privater Art - auf eine gewisse Dauer zum Betreten oder Benutzen der anliegenden Grundstücke befugt sind (vgl. BayObLG VRS 27, 381; OLG Köln VRS 25, 367 f). Nur dann kann z.B., was ein dringendes Bedürfnis fordert, die Preisteilung vom Verbot auch auf die nach der Verkehrsanschauung den unmittelbar Grundstücksberechtigten gleichstehenden Nutzungs- und Aneignungsberechtigten (Jagdpächter, Fischereiberechtigte u. dgl.) bezogen werden, die anderenfalls ihr Recht möglicherweise nicht ausüben könnten.
Anlieger in diesem Sinn ist der Angeklagte nicht. Dagegen spricht, daß die dem Anliegerbegriff eigene enge Verknüpfung mit dem "anliegenden Grundstück" fehlt, die Rechtsbeziehungen von gewisser Dauer und Bestimmbarkeit voraussetzt.
Indessen bezieht sich die Ausnahmeerlaubnis "Anlieger frei" nicht nur auf den Verkehr der Anlieger selbst, sondern auch auf den Verkehr mit den Anliegern. Zum Verkehr mit dem Anlieger, mithin auch zu dem Anliegergrundstück, sind alle Personen berechtigt, die zu dem Anlieger Beziehungen irgendwelcher Art unterhalten oder anknüpfen wollen (vgl. BayObLG a.a.O.). Nur so wird gewährleistet, daß dem Anlieger durch das Verkehrsverbot, von dem er ohne Beschränkungen befreit sein soll, keine Nachteile entstehen. Die Rechtsprechung bezeichnet den Anliegerverkehr deshalb als den "Verkehr von und zu den an der gesperrten Straße liegenden Grundstücken und Geschäften" (OLG Hamm VerkMitt 1959, 24; OLG Schleswig VRS 9, 58; KG VRS 11, 147; so auch Floegel/Hartung 15. Aufl. 1965, Rdn. 8 zu § 3 StVO).
Dies gilt für den Verkehr mit Anliegern sowohl bei bebauten als auch bei unbebauten Grundstücken. Es kann keinen Unterschied machen, ob ein Anlieger auf seinem bebauten oder unbebauten Grundstück selbst aufgesucht wird (etwa Besuch im Schrebergarten) oder ob er Dritten die Erlaubnis erteilt hat, sein an der gesperrten Straße liegendes bebautes oder unbebautes Grundstück in seiner Abwesenheit zu betreten oder zu benutzen. Der Anlieger muß aber bei einem unbebauten Grundstück, was bei einem bebauten Grundstück als verkehrsüblich zu vermuten ist, einen solchen Verkehr zu seinem Grundstück freigegeben haben. Dies kann ausdrücklich oder stillschweigend, im Einzelfall oder allgemein erklärt sein. Dann ist nur der Beweggrund entscheidend, aus dem der Dritte die gesperrte Straße befährt (Floegel/Hartung a.a.O.). Dabei muß der Entschluß, das Anliegergrundstück aufzusuchen, bereits im Augenblick des Einfahrens in die gesperrte Straße gefaßt worden sein (BayObLG a.a.O.; KG a.a.O.; OLG Schleswig a.a.O.). Deshalb war der Angeklagte zum Anliegerverkehr berechtigt, wenn der Grundstückseigentümer das Betreten oder Benutzen seines anliegenden, sonst nicht oder nur schwer zu erreichenden (OLG Köln VRS 17, 387; OLG Oldenburg VRS 27, 289; vgl. BayObLG a.a.O. S. 383) unbebauten Grundstücks, das Ziel seiner Fahrt war, ausdrücklich oder stillschweigend gestattet hatte.
Dabei macht es keinen Unterschied, daß die Zusatztafel die Aufschrift "Anlieger frei" und nicht "Anliegerverkehr frei" trug. Beide Aufschriften geben sowohl den Verkehr der Anlieger als auch den Verkehr mit den Anliegern frei (BayObLG a.a.O.; OLG Frankfurt NJW 1963, 1119 Nr. 17; OLG Hamm DAR 1953, 118, 119 mit Hinweisen auf die ältere Rechtsprechung; OLG Schleswig a.a.O.; KG a.a.O.; OLG Köln VRS 17, 387; Floegel/Hartung a.a.O.; Müller, Strassenverkehrsrecht, 21. Aufl., Anm. 10 zu § 4 StVO). Die Aufschrift "Anlieger frei" kann als Kurzfassung für "Anliegerverkehr frei" gelten. Damit hat sie aber keinen eindeutigen Inhalt mehr, ist aus sich selbst heraus nicht mehr verständlich und deshalb für eine mit ihr etwa beabsichtigte Einschränkung der Ausnahmeregelung wirkungslos (OLG Frankfurt a.a.O.).
Die Entscheidung entspricht im Ergebnis der Äußerung des Generalbundesanwalts.