Bundesgerichtshof
Entscheidung vom 12.11.2009, Az.: 4 STR 227/09
Entscheidungsgründe
Das Landgericht hat die Angeklagte wegen Totschlags in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und drei Monaten verurteilt. Hiergegen wenden sich die Angeklagte und - zu ihren Ungunsten - die Staatsanwaltschaft mit ihren jeweils auf die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gestützten Revisionen; die Angeklagte erhebt darüber hinaus eine Verfahrensrüge. Die Staatsanwaltschaft beanstandet mit ihrem Rechtsmittel, dass das Landgericht im Fall III 1 der Urteilsgründe nicht von einem Totschlag durch aktives Tun sowie dass es bei beiden Taten von minder schweren Fällen des Totschlags (§ 213 2. Alt. StGB) ausgegangen ist.
Das Landgericht hat festgestellt:
Die Angeklagte brachte in der Zeit von 1984 bis 2004 sechs eheliche Kinder lebend zur Welt. Drei Entbindungen (in den Jahren 1984, 1985 und 1990) erfolgten im Krankenhaus, in das sie sich von ihrem Ehemann jeweils unmittelbar vor dem Geburtsbeginn hatte bringen lassen. Dreimal (in den Jahren 1986, 1988 - Tat III 1 - und 2004 - Tat III 2) kam es zu ungewollten Schwangerschaften, die die Angeklagte nicht nur vor ihrer Familie und ihren Bekannten, sondern auch vor ihrem Ehemann verheimlichte. Sie gebar diese Kinder heimlich und, obwohl ihr Ehemann im Hause war, ohne fremde Hilfe im Badezimmer. Die Kinder waren lebensfähig, verstarben jedoch kurz nach ihrer Geburt, weil ihnen nicht die erforderliche Fürsorge entgegengebracht wurde.
Im Jahre 1986 brachte die Angeklagte das Kind unter der laufenden Dusche zur Welt. Beim Durchtrennen der Nabelschnur bemerkte sie, dass das Kind leblos war, und glaubte, es sei während der Geburt verstorben. Tatsächlich war das lebend geborene Kind dadurch erstickt, dass Duschwasser in seine Lunge gelangt war. Die Angeklagte berichtete niemandem von dem Tod des Kindes, an dem sie sich wegen der heimlich durchgeführten Geburt schuldig fühlte. Sie begann, zur Bekämpfung dieser Schuldgefühle abends regelmäßig Bier zu trinken.
Diesen Alkoholkonsum stellte sie auch nicht ein, als sie im Jahre 1988 wieder ungewollt schwanger wurde, obwohl ihr die schädlichen Auswirkungen auf das ungeborene Kind bekannt waren. Als nachts die Wehen einsetzten, entschloss sie sich, ihren Mann davon nicht zu informieren und das Kind in der Duschwanne allein zur Welt zu bringen. Mit dem Risiko, dass es dabei wiederum zum Tod des Neugeborenen kommen könnte, fand sie sich ab. Als der Geburtsvorgang ins Stocken geriet, zog die Angeklagte "panisch" an dem bereits herausgetretenen Kopf des Kindes, bis dieses samt Mutterkuchen austrat. Dabei glitt ihr das Kind aus den Händen und fiel zu Boden, wobei es einen Schrei ausstieß. Beim Aufheben des Kindes rutschte die Angeklagte auf dem vom Fruchtwasser nassen Fliesenboden aus und stürzte auf ihr Gesäß. In dieser Stellung verharrend hielt sie das Kind, das sie bei dem Sturz "reflexartig schützend" an sich genommen hatte, einige Minuten lang so fest an sich gedrückt, dass es erstickte. Auch diesmal verheimlichte sie den Tod des Kindes. Ihre Schuldgefühle steigerten sich weiter, was dazu führte, dass sie verstärkt auch schon tagsüber Alkohol zu sich nahm.
Während der Schwangerschaft mit ihrem 1990 geborenen "Wunschkind" verzichtete sie allerdings auf den Konsum von Alkohol. Danach setzte sie ihren Alkoholmissbrauch fort und steigerte ihn sogar noch, indem sie auch hochprozentige Alkoholika trank.
Diese Gewohnheit behielt sie während ihrer nächsten - ungewollten - Schwangerschaft bei. Als sich im Spätsommer/Herbst 2004 Zeichen der beginnenden Geburt zeigten, entschloss sie sich erneut zu einer - wie sie wusste, risikobehafteten - Alleingeburt. Sie war bereits alkoholisiert und begab sich unter Mitnahme einer Tasse Jägermeister-Cola in das im Dachgeschoss gelegene Badezimmer. Während der Wehen legte sie sich in die mit heißem Wasser gefüllte Badewanne, wo sie infolge der hohen Wassertemperatur und ihrer Blutalkoholkonzentration von etwa 1 vorübergehend das Bewusstsein verlor. Nach der in der Badewanne erfolgten Geburt legte sie das Kind auf ihren Bauch, danach wurde sie erneut bewusstlos. Als sie wieder erwachte, war das Neugeborene verstorben, weil es während des Geburtsverlaufs Fruchtwasser eingeatmet und auf Grund einer Blutalkoholkonzentration von 0,52 unter einer Anpassungsstörung gelitten hatte. Diese wäre bei einer sofortigen adäquaten Versorgung durch einen Arzt oder Geburtshelfer gut beherrschbar gewesen. Auch dieses Geschehen hielt die Angeklagte geheim und legte die Leiche zu den beiden anderen toten Kindern in die Tiefkühltruhe, wo sie bis zu ihrer Entdeckung im Jahre 2008 verblieben.
Revision der Angeklagten
Die Revision der Angeklagten erweist sich als unbegründet.
1. Die von ihr erhobene Verfahrensrüge hat aus den in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts genannten Gründen keinen Erfolg.
2. Die Überprüfung des Urteils auf Grund der Sachrüge hat keinen die Angeklagte belastenden Rechtsfehler ergeben.
a) Dies gilt zunächst insoweit, als das Landgericht im Fall III 1 der Urteilsgründe einen Totschlag durch Unterlassen angenommen hat.
Die Garantenstellung der Angeklagten gegenüber ihrem Kind ergab sich aus ihrer Stellung als Mutter. Damit traf sie vom Einsetzen der Geburtswehen an (vgl. Weigend in LK 12. Aufl. § 13 Rdn. 26) die Verpflichtung, diejenigen Maßnahmen zu treffen, die erforderlich sind, um das Leben des Kindes zu erhalten (vgl. BGH, Urteil vom 14. Juni 1955 - 2 StR 102/55; Urteil vom 29. April 1969 - 1 StR 49/69, GA 1970, 86).
Da die Schwangerschaft problemlos verlaufen war, musste die Angeklagte nicht mit einem erhöhten gesundheitlichen Risiko für das Kind während der Geburt rechnen. Eine Hausgeburt wäre daher nicht von vornherein pflichtwidrig gewesen. Die Angeklagte hatte sich aber nicht nur zu einer solchen, sondern auch dazu entschlossen, das Kind heimlich und ohne fremde Hilfe im Badezimmer zur Welt zu bringen, obwohl bereits ein unter derartigen Umständen geborenes Kind zu Tode gekommen war.
Es kann dahinstehen, ob, wie das Landgericht meint, eine werdende Mutter stets verpflichtet ist, sich für die Geburt fremder Hilfe zu vergewissern. Die Annahme einer solchen Handlungsverpflichtung ohne Bezug zu einer konkreten, mit der Geburt einhergehenden Gefahr erscheint sehr weit gehend. Eine Verpflichtung zur Inanspruchnahme von Hilfe bei der Geburt wird aber immer dann anzunehmen sein, wenn es für die Schwangere im Hinblick auf bekannte Vorerkrankungen oder sonstige Risiken absehbar ist, dass bei der Geburt Gefahren für Leib oder Leben des Kindes entstehen können.
Die Angeklagte traf die Pflicht, einen für das Kind möglichst sicheren Geburtsverlauf und die erforderliche Erstversorgung des Neugeborenen sicherzustellen. Zu Recht geht das Landgericht davon aus, dass die Angeklagte gegen diese Pflicht verstoßen hat, indem sie ihr Kind im Badezimmer und nicht in einer schützenden Umgebung, etwa im Bett, zur Welt brachte. Wie der tatsächliche Verlauf der Geburt zeigt, war das Neugeborene dadurch erheblichen Gefährdungen ausgesetzt: Erst fiel das Kind auf den gefliesten Boden, dann stürzte die Angeklagte mit dem Kind im Arm. Auf Grund ihres durch den äußerst schmerzhaften Geburtsvorgang beeinträchtigten Zustands war die Angeklagte nicht in der Lage, ihr Kind vor diesen Gefahren zu bewahren.
Zwar waren nicht diese Stürze todesursächlich, sondern das mehrminütige Ansichpressen des Kindes durch die Angeklagte. Dieses aktive Tun unterbricht aber dann nicht in relevanter Weise den Kausalzusammenhang, wenn man - wie es das Landgericht zugunsten der Angeklagten getan hat - unterstellt, dass das Ansichpressen nicht mit Tötungsvorsatz geschah, sondern lediglich aus Unachtsamkeit der noch von den Anstrengungen der Geburt beeinträchtigten Angeklagten erfolgte. Eine solche Fehlreaktion im unmittelbaren Anschluss an die Geburt liegt noch innerhalb der Grenzen des nach allgemeiner Lebenserfahrung Vorhersehbaren. Sie wäre vermieden worden, wenn die Angeklagte ihrer Garantenpflicht entsprechend für einen möglichst sicheren Geburtsverlauf gesorgt hätte.
Da die Angeklagte sich nach den Feststellungen damit abgefunden hatte, dass es auch diesmal wieder auf Grund der von ihr gewählten Art und Weise der Entbindung zum Tod des Kindes kommen werde [UA 9], ist auch der bedingte Tötungsvorsatz hinsichtlich des konkret eingetretenen Erfolges belegt.
b) Die Verurteilung im Fall III 2 der Urteilsgründe weist ebenfalls keinen die Angeklagte belastenden Rechtsfehler auf.
In diesem Fall ergab sich die Garantenstellung der Angeklagten nicht nur aus ihrer Eigenschaft als Mutter, sondern auch aus schädigendem Vorverhalten. Der Angeklagten war bewusst, dass wegen ihres erheblichen und regelmäßigen Alkoholkonsums während der Schwangerschaft und der weiteren Alkoholaufnahme unmittelbar vor der Geburt besondere gesundheitliche Risiken für das Kind bestanden. Sie war daher, wie sie wusste, verpflichtet, die Geburt nicht ohne ärztlichen Beistand durchzuführen. Die unterlassene Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe war kausal für den Tod des Neugeborenen, da der Sauerstoffmangel, an dem das Kind durch eine Anpassungsstörung und die akute Alkoholisierung gestorben ist, bei zeitnaher ärztlicher Betreuung hätte behoben werden können.
3. Schließlich ist aus Rechtsgründen auch nicht zu beanstanden, dass das sachverständig beratene Landgericht eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit der Angeklagten bei Begehung beider Taten trotz der bei ihr vorliegenden Persönlichkeitsstörung vom ängstlich-vermeidenden Typ (ICD-10 F 60.6) verneint hat. Die Diagnose "Persönlichkeitsstörung" lässt für sich genommen eine Aussage über die Frage der Schuldfähigkeit des Täters nicht zu. Es bedarf vielmehr einer Gesamtschau, ob die Störung in ihrer Gesamtheit das Leben des Täters vergleichbar schwer und mit ähnlichen Folgen belastet wie eine krankhafte seelische Störung. Eine solche hat das Landgericht vorgenommen.
Revision der Staatsanwaltschaft
1. Mit Erfolg wendet sich die Staatsanwaltschaft dagegen, dass das Landgericht im Fall III 1 der Urteilsgründe ohne nähere Erläuterung davon ausgegangen ist, die Angeklagte habe bei dem zum Ersticken führenden festen Ansichpressen des Kindes nur fahrlässig gehandelt.
Die Beweiswürdigung des Landgerichts weist insoweit Lücken auf, denn sie lässt wesentliche Aspekte unerörtert, die für ein vorsätzliches Handeln sprechen können: Zunächst hätte sich das Landgericht damit auseinandersetzen müssen, ob davon ausgegangen werden kann, dass einer erfahrenen Mutter wie der Angeklagten nicht bewusst ist, dass ein dessen Atmung behinderndes Ansichpressen eines Neugeborenen über mehrere Minuten zu seinem Tod führen kann. Vor allem hätte das Gericht das Gesamtverhalten der Angeklagten während der Schwangerschaft in den Blick nehmen müssen, zumal sich dieses deutlich von demjenigen unterschied, welches die Angeklagte während der Schwangerschaft mit den drei überlebenden Kindern gezeigt hatte. Anders als bei diesen stellte sie diesmal ihren Alkoholkonsum während der Schwangerschaft nicht ein, obwohl ihr die schädlichen Folgen für das Kind bekannt waren.
Sie hielt die Schwangerschaft sogar vor ihrem Ehemann geheim, was allein zur Vermeidung ärztlicher Untersuchungen, gegen die sie eine Abneigung hatte, nicht zu erklären ist, da ihr Ehemann sie auch bei den offenbarten Schwangerschaften nicht dazu angehalten hatte. Zur Entbindung ließ sie sich diesmal nicht wie bei ihren "Wunschkindern" ins Krankenhaus bringen, sondern nahm die Strapazen einer heimlichen Hausgeburt ohne jeden Beistand auf sich. Allein aus ihrer ängstlich-vermeidend geprägten Persönlichkeitsstruktur erscheint dies nicht verständlich, zumal die Angeklagte die Existenz eines weiteren lebenden Kindes vor ihrem Ehemann ohnehin nicht hätte verheimlichen können.
Die Sache bedarf insoweit erneuter tatrichterlicher Würdigung.
Sollte das Gericht in der neuen Hauptverhandlung zu dem Ergebnis kommen, dass die Angeklagte den Tod des Neugeborenen vorsätzlich herbeigeführt hat, so wäre in diesem aktiven Tun der Schwerpunkt des strafrechtlich relevanten Verhaltens (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 17. August 1999 - 1 StR 390/99, NStZ 1999, 607; Urteil vom 14. März 2003 - 2 StR 239/02, BGHR StGB § 13 Abs. 1 Tun 3; vgl. auch Fischer StGB 56. Aufl. Rdn. 17 vor § 13 m.w.N.) zu sehen mit der Folge, dass von vornherein allein darauf und nicht auf die unterlassene Absicherung des Geburtsverlaufs abzustellen wäre.
2. Die Aufhebung des Schuldspruchs im Fall III 1 der Urteilsgründe führt zur Aufhebung des gesamten Strafausspruchs.
Zwar lässt die Strafrahmenwahl bezüglich der Tat III 2 der Urteilsgründe entgegen der Ansicht der Staatsanwaltschaft für sich genommen Rechtsfehler nicht erkennen. Das Landgericht hat die wesentlichen Erschwernisund Milderungsgründe gegeneinander abgewogen. Dabei hat es bedacht, dass das Vorliegen einer Wiederholungstat der Annahme eines minder schweren Falles des Totschlags grundsätzlich entgegenstehen kann, diese jedoch nicht zwingend ausschließt (vgl. BGH, Urteil vom 6. November 2003 - 4 StR 296/03, NStZ-RR 2004, 80, 81 m.w.N.). Im Rahmen der erforderlichen tatrichterlichen Gesamtwürdigung hat es insbesondere den Zeitablauf von 16 Jahren zwischen beiden Taten sowie die Tatsache, dass die Angeklagte zur Tatzeit an einer massiven Alkoholkrankheit mit einem Abhängigkeitssyndrom litt, mildernd berücksichtigt.
Diese Wertung des Tatrichters ist vom Revisionsgericht hinzunehmen, auch wenn eine andere Entscheidung möglich gewesen wäre.
Sollte die neu entscheidende Schwurgerichtskammer im Fall III 1 der Urteilsgründe aber zu einem Schuldspruch wegen durch aktives Tun begangenen Totschlags kommen, könnte sich dies auch auf die Strafzumessung im Fall III 2 der Urteilsgründe auswirken.
Auf Anregung der Verteidigung und der Staatsanwaltschaft macht der Senat von der Möglichkeit Gebrauch, die Sache an ein anderes Landgericht zurückzuverweisen (§ 354 Abs. 2 StPO).