Bundesgerichtshof
Entscheidung vom 14.08.2013, Az.: 4 STR 308/13
Entscheidungsgründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und neun Monaten verurteilt. Seine hiergegen gerichtete Revision hat mit der Sachrüge Erfolg.
1. Der Angeklagte war seit Ende Februar 2012 als Leiharbeiter bei einem in der Fleischverarbeitung tätigen Unternehmen in R. im Schichtdienst beschäftigt. Zusammen mit mehreren, vorwiegend osteuropäischen Arbeitnehmern, zu denen auch der Geschädigte S. sowie der Zeuge T. gehörten, lebte er in einer von seinem Arbeitgeber gestellten Unterkunft, in der jeder der Arbeitnehmer ein Zimmer bewohnte und sich mit den anderen die Benutzung der Gemeinschaftsräume wie Küche und Badezimmer teilte. Nachdem der Angeklagte am 16. Juni 2012 bis 9.00 Uhr morgens gearbeitet, danach geschlafen und im Anschluss Einkäufe erledigt hatte, trank er nach seiner Rückkehr gegen 17.00 Uhr zunächst mit einem anderen Mitbewohner Wodka und Bier und spielte daraufhin mit dem Geschädigten S. und anderen Männern bis etwa 4.00 Uhr nachts in der Gemeinschaftsküche Karten. In Gegenwart des Zeugen T., der in die Küche gekommen war, entwickelte sich zwischen dem Angeklagten und dem Geschädigten S. eine zunächst nur verbale Auseinandersetzung, dann aber eine Prügelei, bei der beide auf dem Boden der Küche zu liegen kamen und mit Fäusten auf Gesicht und Oberkörper des jeweils anderen einschlugen. Wer mit der Auseinandersetzung begonnen hatte, konnte das Landgericht nicht sicher feststellen. Auf Initiative des Zeugen T., der den Geschädigten vom Körper des Angeklagten heruntergezogen hatte, erklärten beide den Streit für beendet. Während der Geschädigte im Begriff war, sich wieder auf seinen Stuhl am Küchentisch zu setzen, öffnete der Angeklagte die Schublade des Küchentischs, entnahm ihr mit der rechten Hand ein Messer mit einer 15 cm langen Klinge, drehte sich um und stach dem Geschädigten, ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehend, zweimal schnell hintereinander in die linke Seite des mit einem T-Shirt bekleideten Oberkörpers, wobei er billigend in Kauf nahm, diesen zu töten. Anschließend warf er das Messer in die noch offen stehende Schublade. Der Geschädigte blieb noch einen Augenblick stehen, bevor er auf dem Boden zusammensackte. Während der Zeuge T. versuchte, mit einem Küchentuch die Blutungen zu stoppen, setzte sich der Angeklagte auf einen Stuhl im hinteren Teil der Küche und begann sich eine Zigarette zu drehen. Vom Zeugen T. zur Hilfe aufgefordert, antwortete er, er müsse sich erst eine Zigarette drehen, denn er käme jetzt ins Gefängnis. Bis zum späteren Eintreffen der Polizei blieb der Angeklagte auf seinem Stuhl sitzen. Der lebensgefährlich verletzte Geschädigte konnte durch eine Notoperation gerettet werden.
2. Das Landgericht hat angenommen, dass der Angeklagte mit bedingtem Tötungsvorsatz auf den Geschädigten eingestochen habe, ohne durch Notwehr gemäß § 32 StGB gerechtfertigt gewesen zu sein. Einen strafbefreienden Rücktritt hat es mit der Begründung verneint, dass ein beendeter Versuch im Sinne von § 24 Abs. 1 Satz 1 Fall 2 StGB gegeben sei und der Angeklagte keine Rettungsbemühungen entfaltet habe. Ein beendeter Versuch sei anzunehmen, weil nicht festzustellen sei, dass sich der Angeklagte über die Folgen seiner Tat überhaupt irgendwelche Vorstellungen gemacht habe. Ein realer Gesichtspunkt, an den die Annahme anknüpfen könnte, der Angeklagte habe geglaubt, der mit Tötungsvorsatz geführte Stich sei nicht tödlich, bestehe nicht. Dass der Geschädigte nach den Stichverletzungen nicht unmittelbar zusammengebrochen, vielmehr zunächst noch einen kleinen Augenblick stehen geblieben sei, sei ohne Bedeutung, da der tödliche Erfolg nicht in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit der todesverursachenden Handlung stehen müsse, sondern auch, etwa durch Verbluten, erst einige Zeit später eintreten könne. Schließlich habe sich der Angeklagte zu keinem Zeitpunkt zu seinen entsprechenden Vorstellungen geäußert. Wenn sich aber Erwägungen des Angeklagten, die zugefügten Verletzungen seien nicht tödlich gewesen, nicht feststellen ließen, könne allenfalls festgestellt werden, dass sich der Angeklagte überhaupt keine Vorstellung darüber gemacht habe, ob der Geschädigte sterben könne oder nicht. Der Zweifelsgrundsatz, der auch auf das Vorliegen der Rücktrittsvoraussetzungen Anwendung finde, erlaube es nicht, zugunsten des Angeklagten Tatvarianten zu unterstellen, für die es - wie hier - keine konkreten Anhaltspunkte gäbe.
1. Da das Rechtsmittel des Angeklagten bereits mit der Sachrüge in vollem Umfang Erfolg hat, bedarf es einer eingehenden Erörterung der erhobenen Verfahrensrüge nicht. Der Senat merkt gleichwohl an, dass die Zurückweisung des Beweisantrags auf Einholung eines rechtsmedizinischen Sachverständigengutachtens als völlig ungeeignet im Sinne von § 244 Abs. 3 Satz 2 Fall 4 StPO rechtlichen Bedenken begegnet. Zu der Beweisfrage - Verletzungen und Spurenbilder beim Angeklagten sollten belegen, dass er im Rahmen der Auseinandersetzung mit dem Geschädigten von diesem mit dem linken Arm gewürgt worden sei - hätte sich ein Sachverständiger nach Lage des Falles voraussichtlich gutachterlich äußern können. Damit ist das benannte Beweismittel aber nicht völlig ungeeignet. Denn die völlige Ungeeignetheit eines Beweismittels liegt nur dann vor, wenn der Tatrichter ohne Rücksicht auf das bisher gewonnene Beweisergebnis feststellen kann, dass sich mit dem angebotenen Beweismittel das in dem Beweisantrag in Aussicht gestellte Ergebnis nach sicherer Lebenserfahrung nicht wird erzielen lassen; ein geminderter, geringer oder nur zweifelhafter Beweiswert reicht nicht aus (BGH, Beschluss vom 24. August 2007 - 2 StR 322/07, NStZ 2008, 116; Beschluss vom 6. März 2008 - 5 StR 617/07, NStZ 2008, 351, 352).
2. Das angefochtene Urteil weist einen durchgreifenden sachlich-rechtlichen Mangel auf, weil die Erwägungen, mit denen das Landgericht zur Annahme eines beendeten Versuchs gelangt ist und daran anknüpfend einen strafbefreienden Rücktritt verneint hat, an einem Erörterungsmangel leiden und deshalb revisionsrechtlicher Überprüfung nicht standhalten.
a) Zwar ist das Landgericht im Ansatz zutreffend davon ausgegangen, dass ein beendeter Versuch, von dem nur unter den erschwerten Voraussetzungen des § 24 Abs. 1 Satz 1 Fall 2, Satz 2 StGB zurückgetreten werden kann, nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auch dann vorliegt, wenn sich der Täter im Augenblick des Verzichts auf eine mögliche Weiterführung der Tat keine Vorstellung von den Folgen seines bisherigen Verhaltens macht (BGH, Urteil vom 3. Juni 2008 - 1 StR 59/08, NStZ 2009, 264 Tz. 9; Beschluss vom 3. Februar 1999 - 2 StR 540/98, NStZ 1999, 299; Urteil vom 10. Februar 1999 - 3 StR 618/98, NStZ 1999, 300, 301; Beschluss vom 12. April 1995 - 2 StR 105/95, MDR bei Holtz 1995, 878, 879; Urteil vom 2. November 1994 - 2 StR 449/94, BGHSt 40, 304, 306; SSW-StGB/Kudlich/Schuhr, § 24 Rn. 37). Als innere Tatsache muss diese gedankliche Indifferenz des Täters gegenüber den von ihm bis dahin angestrebten oder doch zumindest in Kauf genommenen Konsequenzen aber positiv festgestellt werden; hierzu bedarf es einer zusammenfassenden Würdigung aller maßgeblichen objektiven Umstände (Senatsurteil vom 13. März 2008 - 4 StR 610/07, Tz. 13 mwN).
b) Diesen Anforderungen werden die Darlegungen in den Urteilsgründen nicht gerecht. Zwar trifft es zu, dass der Zweifelssatz nicht dazu nötigt, (innere) Tatsachen zugunsten des Angeklagten zu unterstellen, für die es keine Anhaltspunkte gibt (Senatsbeschluss vom 22. Mai 2013 - 4 StR 170/13; BGH, Urteil vom 3. Juni 2008 - 1 StR 59/08, NStZ 2009, 264, Tz. 14). Auch kann in Fällen, in denen sich aus den objektiven Umständen kein Hinweis auf das konkrete Vorstellungsbild des Täters im Zeitpunkt des Abbruchs der Tötungshandlung ergibt, die Annahme gerechtfertigt sein, dass bei ihm die der Tatbegehung zu Grunde liegende Folgeneinschätzung fortbestanden hat oder ihm die Folgen gleichgültig sind (Senatsbeschluss vom 22. Mai 2013 aaO).
aa) Im vorliegenden Fall gab es jedoch (weitere) konkrete Umstände unmittelbar nach der Tat, die Rückschlüsse auf das Vorstellungsbild des Angeklagten zuließen, vom Landgericht im Rahmen der gebotenen Gesamtwürdigung aber keine Berücksichtigung gefunden haben:
Nach den Feststellungen lagen die beiden Messerstichverletzungen in der Bauchregion, wobei der zweite Stich nur oberflächlich war und im subkutanen Gewebe endete (UA S. 8). Dem Angeklagten war auch bewusst, dass eine rettungsbereite Person in Gestalt des Zeugen T. anwesend war, der unmittelbar nach der Tat Maßnahmen ergriff, um die Blutung zu stoppen, und den Notarzt sowie die Polizei alarmieren ließ. Bei dieser Sachlage wäre zu erörtern gewesen, ob aus Sicht des Angeklagten Grund für die Annahme bestand, die mit bedingtem Tötungsvorsatz geführten Stiche würden tatsächlich keine lebensbedrohlichen Folgen haben.
bb) Schon mit Blick auf diesen Erörterungsmangel erweist sich die Erwägung des Landgerichts, aus dem Umstand, dass keine Feststellungen zum Vorstellungsbild des Angeklagten zum Erfolgseintritt getroffen werden konnten, sei auf ein Fehlen derartiger Vorstellungen zu schließen, als nicht tragfähig. Die Erwägung ist im Übrigen auch für sich genommen in dieser allgemeinen Form rechtlich bedenklich. Denn die (positive) Feststellung, dass sich der Täter keine Gedanken über den Erfolgseintritt gemacht hat, darf mit dem Fall, dass zu diesen Gedanken keine Feststellungen getroffen werden können, nicht gleichgesetzt werden, da es in dem letztgenannten Fall noch Raum für die Anwendung des Zweifelssatzes gibt (Senatsbeschluss aaO; SSW-StGB/Kudlich/Schuhr, § 24 Rn. 37).
1. Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung. Dabei wird der neue Tatrichter - sofern er wieder entsprechende Feststellungen zu treffen vermag - auch zu erwägen haben, ob der Äußerung des Angeklagten auf die Aufforderung des Zeugen T., ihm zu helfen, er müsse sich jetzt erst eine Zigarette drehen, da er jetzt nämlich ins Gefängnis müsse, ein Hinweis auf ein indifferentes Vorstellungsbild oder eine Gleichgültigkeit gegenüber einem möglichen Todeseintritt entnommen werden kann.
2. Ergänzend bemerkt der Senat:
a) Auch die Ausführungen des Landgerichts zur uneingeschränkten Schuldfähigkeit des Angeklagten zum Tatzeitpunkt sind rechtlich bedenklich.
Zwar hat sich die Strafkammer insoweit sachverständig beraten lassen, die beim Angeklagten etwa zwei Stunden nach der Tat entnommene Blutprobe mit einer Blutalkoholkonzentration (BAK) von 2,09 findet indes in diesem Zusammenhang in den Urteilsgründen keine Berücksichtigung; die aus diesem Umstand zu ziehenden Folgerungen bleiben unerörtert. Ob sich der Sachverständige zu diesem Wert geäußert und eine Rückrechnung vorgenommen hat, wird im Urteil ebenfalls nicht mitgeteilt. Angesichts der aus der Blutprobe folgenden Tatzeit-BAK von etwa 2,69 war dies hier aber unerlässlich.
Die Erwägung des Landgerichts, für die uneingeschränkt erhalten gebliebene Schuldfähigkeit spreche auch das exakte Erinnerungsvermögen des Angeklagten an den Tathergang, erweist sich vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Strafkammer dessen Einlassung in wesentlichen Teilen nicht gefolgt ist, als kaum tragfähig.
b) Bei der Prüfung eines sonstigen minder schweren Falles des Totschlags im Sinne von § 213 Fall 2 StGB ist das Vorliegen eines vertypten Strafmilderungsgrundes - hier § 23 Abs. 2 StGB - regelmäßig von Bedeutung; er bedarf daher der ausdrücklichen Erörterung (vgl. Fischer, StGB, 60. Aufl., § 213 Rn. 14).