Bundesgerichtshof
Entscheidung vom 26.10.1962, Az.: 4 STR 324/62
Tenor
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts in Dortmund vom 20. März 1962 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an das Landgericht in Essen zurückverwiesen.
Entscheidungsgründe
Der Angeklagte ist wegen Unzucht mit Kindern (Verbrechen nach § 176 Abs. 1 Nr. 3 StGB) zu einer Zuchthausstrafe von einem Jahr und vier Monaten verurteilt worden.
Seine Revision beanstandet das Verfahren und rügt die Verletzung sachlichen Rechts. Sie ist begründet.
1.Sie Revision hält § 244 Abs. 2 StPO für verletzt, weil das Landgericht keinen ärztlichen Gutachter über die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Angeklagten gehört hat, obwohl der Angeklagte in dem wegen wissentlich falscher Anschuldigung gegen ihn geführten Verfahren - 3 Ms 64/56 des Schöffengerichts in Dortmund - von dem Sachverständigen Dr. St. untersucht worden ist und der Sachverständige damals beim Angeklagten eine Psychopathie ohne Krankheitswert festgestellt hat.
Die Rüge ist begründet.
Die Strafkammer hat im angefochtenen Urteil nicht den Inhalt des früheren Gutachtens mitgeteilt, sondern lediglich bemerkt, nach dem Gutachten des Sachverständigen Dr. St. handle es sich beim Angeklagten um einen Psychopathen. Die Psychopathie sei jedoch nicht von einem derartigen Grade, daß ihr ein Krankheitswert beigemessen werden könne. Hierüber unterrichtet hat sich das Landgericht ersichtlich nur durch Befragung des Angeklagten. Das genügte nicht. Vielmehr mußte das Landgericht sich gedrängt fühlen, sich vom Befund des Angeklagten zur Zeit seiner früheren Untersuchung ein umfassendes Bild zu verschaffen und den Angeklagten auf seinen Geisteszustand zur Tatzeitärztlich erneut untersuchen zu lassen, wenn sich eine weitere Entwicklung der beim Angeklagten vor Jahren durch den Sachverständigen festgestellten Psychopathie nicht mit ausreichender Sicherheit ausschließen ließ. Im allgemeinen konnte das Landgericht sich selbst nicht die genügende Sachkunde zutrauen, um darüber zu befinden, ob der Angeklagte noch im Zeitpunkt der jetzt abgeurteilten Taten nur an einer Psychopathie ohne Krankheitswert litt, die nicht einmal die Anwendung des § 51 Abs. 2 StGB im vorliegenden Falle rechtfertigte, der eine ganz anders geartete strafbare Handlung als die 1956 abgeurteilte betrifft.
Der erörterte Verfahrensverstoß nötigt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an den Tatrichter, der zweckmäßigerweise einen vom Institut für Sexualwissenschaft in Hamburg-Eppendorf, Martinistraße 52 auszuwählenden Sachverständigen heranzuziehen haben wird. Bei der Zurückverweisung hat der Senat von der Befugnis des § 354 Abs. 2 Satz 2 StPO Gebrauch gemacht.
2.Auf die sonstigen Beanstandungen des angefochtenen Urteils durch den Beschwerdeführer braucht nicht eingegangen zu werden. Für die weitere Behandlung der Sache durch den Tatrichter wird jedoch auf folgendes hingewiesen:
a)Die Strafkammer hat sich für ausreichend sachkundig erklärt, die Glaubwürdigkeit der zur Tatzeit 9 und 12 Jahre alten, möglicherweise schon in der Geschlechtsreifung oder kurz vor deren Beginn befindlichen beiden Zeuginnen, an denen der Angeklagte sich vergangen haben soll, zu beurteilen, und mit dieser Begründung den Antrag des Verteidigers auf Einholung eines psychologischen Gutachtens über die Glaubwürdigkeit beider Zeuginnen abgelehnt.
Im allgemeinen ist der Tatrichter bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Zeugen zwar nicht auf sachverständige Hilfe angewiesen, selbst nicht bei kindlichen oder jugendlichen Zeugen; bei entsprechender Ausbildung oder richterlicher Erfahrung auch dann nicht immer, wenn die Zeugen vor oder in der Geschlechtsentwicklung stehen und über geschlechtsbezogene Vorfälle aussagen, selbst wenn sie als Opfer von Sittlichkeitsverbrechen in Betracht kommen. Wenn aber deren Aussage die Hauptgrundlage der Verurteilung bildet und in anderen Umständen keine erhebliche Unterstützung findet, so liegt die Heranziehung eines Sachverständigen nahe, dem für die Vernehmung von Kindern andere und bessere Erkenntnismittel zur Verfügung stehen als dem erkennenden Gericht (vgl. BGHSt 7, 82, 85 [BGH 14.12.1954 - 5 StR 416/54]; BGH NJW 1961, 1636 Nr. 21 mit Hinweisen).
Im vorliegenden Falle hat zwar die Mutter der jugendlichen Hannelore und Ursula K. als Zeugin bekundet, was ihr ihre Töchter über das Verhalten des Angeklagten berichtet haben, aber bei ihrer polizeilichen Vernehmung und anscheinend auch in der Hauptverhandlung nur ausgesagt, daß der Angeklagte beim Tanzen mit ihren beiden Töchtern, die er dazu auf den Arm genommen hatte, unter das Kleid bis zum Schlüpfer gegriffen habe, während jedes von den beiden Mädchen darüber hinausgehend bei der polizeilichen Vernehmung und auch in der Hauptverhandlung dem Sinne nach bekundet hat, der Angeklagte habe bei dieser Gelegenheit durch das Schlüpferbein an seinen nackten Geschlechtsteil gefaßt. Einen weiteren zeitlich später liegenden als erwiesen angesehenen Vorfall mit Ursula hat diese ihrer Mutter überhaupt nicht berichtet.
Im übrigen liegt die Annahme nicht fern, daß bei beiden Mädchen, die sich zur Tatzeit im kritischen Alter befanden, während des Tanzes des Angeklagten mit ihnen geschlechtlich bedingte Vorstellungen entstanden sind, die in dem Gespräch, das beide Mädchen im Anschluß an den Tanz geführt haben, unbewußt übertrieben ausgeschmückt wurden. Bemerkenswert ist insoweit, daß die Darstellungen der Schwestern über das Verhalten des Angeklagten ihnen gegenüber völlig übereinstimmen.
Daß beide als Zeuginnen in der Hauptverhandlung erst auf Vorhalt ausgesagt haben, wie weit der Griff des Angeklagten unter ihren Rock gegangen ist, braucht - wie die Revision zutreffend bemerkt - nicht nur auf Zurückhaltung wegen der Peinlichkeit des. Vorfalls zu beruhen.
Insgesamt hätte das eigenartige Aussageverhalten der jugendlichen Zeuginnen die Anhörung eines seelenkundlichen Sachverständigen über deren Glaubwürdigkeit nahe legen können.
b)Sachlichrechtlich begegnet die Annahme des Landgerichts einer Handlungseinheit im natürlichen Sinne Bedenken. Der Angeklagte hat sich nicht an beiden Kindern gleichzeitig körperlich betätigt. Zudem geben die von der Strafkammer getroffenen Feststellungen keinen Anlaß zu der Annahme, daß sein Verhalten auf einen Willensentschluß zurückzuführen sei. Ebenso ist keine tatsächliche Grundlage für die Annahme eines Gesamt Vorsatzes des Angeklagten gegenüber Ursula ersichtlich, zumal das Landgericht bei seinen Strafzumessungserwägungen davon ausgeht, daß der Angeklagte sich bietende Gelegenheiten ausgenutzt habe.
c)Damit ist, wie die Revision zutreffend bemerkt, auch nicht ohne nähere Darlegung in Einklang zu bringen, daß die Strafkammer straferschwerend wertet, der Angeklagte habe sich "mit großer verbrecherischer Energie an mehreren Kindern vergangen" (UA S. 11).