Bundesgerichtshof
Entscheidung vom 15.01.1960, Az.: 4 STR 528/59
Tenor
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts in Bielefeld vom 1. September 1959 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit er verurteilt worden ist.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an das Landgericht zurückverwiesen.
Entscheidungsgründe
Der Angeklagte ist unter Freisprechung im übrigen wegen gewaltsamer Vornahme unzüchtiger Handlungen an einer Frau in Tateinheit mit Körperverletzung und Entführung (§ 236 StGB) zu einer Gefängnisstrafe von zehn Monaten verurteilt worden.
Mit der Revision rügt er die Verletzung verfahrensrechtlicher und sachlichrechtlicher Vorschriften.
1.)Die Rüge, daà das Landgericht dem hilfsweise gestellten Antrag des Angeklagten auf Durchführung einer Ortsbesichtigung nicht stattgegeben habe, ist unbegründet. Wie das Landgericht ausführt, konnte der genaue Tatort nicht ermittelt werden (UA S. 7, 8) Damit entfiel die Möglichkeit, die Augenscheinseinnahme an dem Ort, an dem sich die Tat abgespielt haben soll, vorzunehmen.
Soweit die Revision ihre Aufklärungsrüge darauf stützt, die Strafkammer habe keine ausreichenden Ermittlungen über die Lage des Tatorts angestellt, fehlt die Angabe der Beweismittel, deren sich der Tatrichter hätte bedienen sollen.
Die weitere Aufklärungsrüge, das Landgericht hätte den Zeugen L. zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts vernehmen müssen, greift ebenfalls nicht durch. Der Angeklagte hatte in der Hauptverhandlung einen Hilfsbeweisantrag auf dessen Vernehmung gestellt. Das Landgericht hat die Beweisbehauptung als wahr unterstellt (UA S. 7). Es ist nicht ersichtlich, daà hier ein Fall vorlag, in welchem sich das Gericht mit einer Wahrunterstellung nicht hätte begnügen, sondern stattdessen den Zeugen hätte vernehmen müssen.
2)Mit der Sachrüge macht der Angeklagte geltend, daà die Ausführungen des Urteils über die Tatzeit seiner Täterschaft entgegenstünden. Nach den getroffenen Feststellungen ist die Schwester der Verletzten, Sieglinde K., gegen 17 Uhr nach Hause gekommen. Sie hatte von dem Standort des Wagens des Angeklagten, den sie verlassen hatte, bis nach Hause eine Entfernung von etwa 300 m zu Fuà zurückzulegen, Dies kann höchstens eine Zeit von ungefähr fünf Minuten in Anspruch genommen haben (UA S. 7 unten). Sie müÃte also den Wagen des Angeklagten etwa 8-10 Minuten vor 17 Uhr verlassen haben. Um diese Zeit fuhr der Angeklagte mit der im Wagen befindlichen Elfriede K. weiter. Das Gericht hat nun als wahr unterstellt, daà der Angeklagte seiner Einlassung entsprechend bereits "gegen 17 Uhr" mit seinem Freund Karl-Heinz L. zusammen gewesen sei. Er müÃte also in der Zwischenzeit zwischen dem Verlassen seines Wagens durch Sieglinde K. und dem Zusammentreffen mit seinem Freund L. diejenigen Handlungen vorgenommen haben, die das Gericht im Urteil (UA S. 4) schildert. Er müÃte demnach in diesem Zeitraum, den das Gericht nicht näher bestimmt, der aber nach den getroffenen Feststellungen, nur wenige Minuten umfaÃt haben kann, mit dem Opfer Elfriede K. davon gefahren, ersichtlich an eine Stelle gelangt sein, an der er Störungen durch andere Personen nicht zu befürchten hatte, müÃte ihr dann den Schlüpfer ausgezogen und die geschilderten Unzuchtshandlungen vorgenommen haben. Darauf müÃte er den Wagen wieder in Bewegung gesetzt und an eine Stelle gefahren haben, die "nicht weit von zu Hause entfernt" - nämlich von dem Hause der Elfriede K. entfernt - war. SchlieÃlich müÃte er von hier wieder weggefahren und sich an eine Stelle - wie weit diese entfernt war, ist in den Urteilsgründen nicht angegeben - begeben haben, an der er mit L. zusammengetroffen ist, Nach diesen Feststellungen ergeben sich erfahrungsgesetzliche Bedenken gegen den Schluà des Landgerichts, der Angeklagte habe noch "genügend Zeit" zur Ausführung der Tat gehabt. Dies gilt auch unter Berücksichtigung des von der Strafkammer hervorgehobenen Umstandes, daà er mit seinem Wagen Gelegenheit zu einem schnellen Ortswechsel gehabt habe.
Der vom Landgericht gezogene Schluà wird daher durch die bisherigen tatsächlichen Feststellungen nicht getragen.
Gegen die zeitlichen Angaben des Urteils ergeben sich noch aus anderen Gesichtspunkten Bedenken, Wenn der Angeklagte Elfriede K. "nicht weit von zu Hause" entfernt absetzte, sodann davonfuhr und gleichwohl noch vor 17 Uhr mit L. zusammentraf, so ist es nach den bisherigen Feststellungen nicht ohne weiteres verständlich, daà Elfriede K. "eine halbe bis dreiviertel Stunde später" als Sieglinde zu Hause ankam (UA S. 4). Unter diesen Umständen müÃte sie für die "nicht weite" Strecke eine bisher nicht aufgeklärte und verhältnismäÃig lange Zeit gebraucht haben.
Aber auch im übrigen enthält das Urteil Feststellungen, die nicht ohne weiteres mit der Lebenserfahrung in Einklang stehen. Der Angeklagte soll der Elfriede K., neben ihr im Kraftwagen sitzend. 8 bis 10 Glas Wachholder eingeflöÃt haben, obgleich sich diese dagegen gewehrt haben soll (UA S. 3 unten). Mangels Darlegung der näheren Umstände ist es nicht erkennbar, wie es dem Angeklagten möglich gewesen sein soll, einem 20jährigen Mädchen gegen seinen Widerstand hintereinander die genannte Anzahl von Gläsern Alkohol einzuflöÃen, da der Täter jeweils, nachdem er 1 Glas eingeflöÃt hatte, dieses immer wieder neu einschenken muÃte, wozu er - jedenfalls kann dem Urteil nichts anderes entnommen werden - beide Hände benötigte. Es erhebt sich daher die Frage, warum das Mädchen in der Zweischenzeit nicht den Wagen verlassen hat, zumal der Angeklagte im Augenblick des EingieÃens sie nicht hätte festhalten können oder weshalb es nicht das Glas während oder nach dem erneuten Einfüllen dem Angeklagten aus der Hand geschlagen hat. Danach könnten sich erfahrungsgesetzliche Zweifel gegen den Schluà des Landgerichts ergeben, der Angeklagte habe ihr den Alkohol gewaltsam eingeflöÃt (UA S. 3, 8).
In diesen Richtungen wird das Landgericht den Sachverhalt erneut nachzuprüfen haben.
In rechtlicher Hinsicht sei noch erwähnt, daà gegen die Auffassung des Landgerichts, der Angeklagte habe Gewalt gegen Elfriede K. angewandt, Bedenken dann nicht zu erheben sind, wenn er dem Mädchen den Alkohol mit Gewalt eingeflöÃt hat. Zwar handelt es sich bei Alkohol nicht um ein Betäubungsmittel, das, wie etwa Chloräthyl (vgl. BGHSt 1, 145), unmittelbar betäubende Wirkung ausübt. Dem Schutzzweck des § 176 Abs. 1 Nr. 1 StGB entspricht es jedoch, als Gewalt im Sinne dieser Vorschrift auch die gewaltsame Beibringung von Alkohol in solchen Mengen anzusehen, daà hierdurch die Widerstandskraft des Opfers gebrochen wird. Der Sinn des Gesetzes ist es, das Opfer dagegen zu schützen, daà der Täter es durch Gewalt gegen dessen unzüchtige Angriffe wehrlos nacht. Ob das gewaltsam beigebrachte Mittel wie etwa Chloräthyl sofort oder ob es erst später wirkt, kann sachlich keinen Unterschied begründen. Wie das Landgericht festgestellt hat, ist Elfriede K. infolge des erheblichen Alkoholgenusses zu einer Gegenwehr gegen den Angeklagten nicht mehr fähig gewesen.
Sollte das Landgericht bei der neuen Verhandlung nicht mehr feststellen können, daà der Alkohol dem Mädchen gegen seinen Willen beigebracht worden sei, so würde allerdings eine Gewaltanwendung im Sinne der genannten Vorschrift nicht vorliegen. Wie der Bundesgerichtshof ausgesprochen hat, ist derjenige, der eine Frau, in Narkose versetzt und unzüchtig berührt, jedenfalls dann nicht nach § 176 Abs. 1 Nr. 1 strafbar, wenn die Frau mit der Narkose - auch infolge einer Täuschung - einverstanden war (5 StR 75/59 vom 21. April 1959 = NJW 1959, 1092).
Die Strafkammer hat den Angeklagten ferner wegen tateinheitlich begangener Entführung und Körperverletzung nach den §§ 236, 223 StGB verurteilt. Zur Verfolgung ist ein Antrag erforderliche. Das Landgericht hat im Urteil keine Feststellungen darüber getroffen, ob ein solcher gestellt worden ist. Da das Revisionsgericht verpflichtet ist, die Verfahrensvoraussetzungen von Amts wegen zu prüfen, hat es durch Einsicht in die Hauptakten im Wege des Freibeweises hierüber Feststellungen getroffen. Wie sich aus Bl 5 R der Hauptakten ergibt, hat Elfriede K. Strafantrag gestellt. Dieser war gemäà § 65 StGB wirksam, da sie bereits das 18. Lebensjahr vollendet hatte, und ermöglichte die Strafverfolgung unter jedem anwendbaren strafrechtlichen Gesichtspunkt.
3.)Nicht zutreffend ist die Annahme des Landgerichts, daà die Strafe dem § 176 Abs. 1 Nr. 1 StGB zu entnehmen sei. Sie hätte vielmehr aus § 236 StGB bestimmt werden müssen. Beide Vorschriften drohen Zuchthaus bis zu zehn Jahren an. Jedoch läÃt § 176 in Abs. 2 die Zubilligung mildernder Umstände zu. Da das Landgericht eine Gefängnisstrafe verhängt hat, hat es ersichtlich hiervon Gebrauch gemacht. In § 236 StGB ist jedoch die Zubilligung mildernder Umstände nicht vorgesehen Diese Vorschrift ist daher im Sinne des § 73 als dasjenige Gesetz anzusehen, welches die schwerste Strafe androht. Hierdurch ist jedoch der Angeklagte nicht beschwert. Auch in der neuen Verhandlung dürfte gemäà dem Verbot der Schlechterstellung eine nach Art und Höhe schwerere Strafe als die bisher ausgesprochene nicht verhängt werden (§ 358 Abs. 2 StPO).