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Bundesgerichtshof

Entscheidung vom 08.05.1956, Az.: 5 STR 29/56

Tenor

Auf die Revision der Nebenklägerin wird das Urteil des Schwurgerichts in Berlin vom 30. Juni 1955 nebst den Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision der Nebenklägerin, an das Schwurgericht zurückverwiesen.

Die Revision des Angeklagten wird verworfen. Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Entscheidungsgründe

Am 9. August 1953 erfuhr die neunzehnjährige Lieselotte D., daß der Angeklagte das Liebesverhältnis mit ihr nicht fortsetzen wollte und geschlechtliche Beziehungen zu der sechzehnjährigen Christel Dy. unterhielt. Sie nahm mittags aus dem unverschlossenen Arzneischrank seines Sprechzimmers eine Flasche, die noch etwa 20 ccm einer 10 %igen Chromsäurelösung enthielt, und trank die Flüssigkeit aus. Christel Dy. kam hinzu und rief den Angeklagten. Dieser gab der Lieselotte D. etwa einen Liter Wasser zu trinken und brachte sie zum Erbrechen. Nach ungefähr zehn Minuten hatte sie einen Anfall heftiger Schmerzen, die nach einer Weile nachließen. Als erörtert wurde, ob ein Arzt gerufen werden sollte, lehnte Lieselotte D. dies mit der Begründung ab, ihre Mutter und ihr Arbeitgeber sollten von dem Vorfall nichts erfahren; am nächsten Tage, einem Montag, werde alles wieder gut sein, dann wolle sie zur Arbeit gehen. Der Angeklagte glaubte, es bestehe keine Gefahr, Gegen 21 Uhr verschlechterte sich jedoch ihr Befinden. Sie klagte über stärkere Kopf- und Magenschmerzen und erbrach wieder. Ihr Aussehen veränderte sich plötzlich in beängstigender Weise. Sie erkannte niemanden mehr. Der Angeklagte gab ihr zwei Melabontabletten und äußerte gegenüber Christel Dy. er könne nicht mehr helfen. Lieselotte D. er brach erneut, kam wieder mehr zu sich, erkannte Christel Dy., wußte aber nicht, wo sie sich befand. Schließlich schlief sie ein. Gegen 5 Uhr morgens ging sie ins Badezimmer und brach dort zusammen. Der Angeklagte hörte das und brachte sie wieder ins Bett. Am anderen Morgen weckte er sie um 7 Uhr, weil sie am Tage zuvor darum gebeten und erklärt hatte, sie wolle unbedingt zur Arbeit gehen. Sie sah jedoch grau und eingefallen aus, konnte vor Schwäche nicht aufstehen und klagte über sehr starke Kopf- und Leibschmerzen, Gegen 9.30 Uhr rief der Angeklagte mehrere Krankenhäuser an, bis er eine Aufnahmezusage erhielt. Gegen 12 Uhr wurde Lieselotte D. in ein Krankenhaus eingeliefert. Dort starb sie am nächsten Tage morgens an den Folgen der Chromsäurevergiftung.

Das Schwurgericht hat den Angeklagten wegen unterlassener Hilfeleistung nach § 330 c StGB zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt, weil er keine ärztliche Hilfe hinzuzog, als der Zustand Lieselotte D. sich am Abend des Sonntages, an dem sie das Gift eingenommen hatte, gegen 21 Uhr sehr verschlechterte.

Die Mutter der Verstorbenen, die als Nebenklägerin zugelassen worden ist, und der Angeklagte haben Revision eingelegt.

Die Nebenklägerin macht mit Verfahrens- und sachlichrechtlichen Beschwerden geltend, das Schwurgericht habe vorsätzliche oder fahrlässige Tötung rechtsirrig verneint und die Frage einer vorsätzlichen Körperverletzung nicht geprüft. Ihre Revision führt zur Aufhebung des Urteils.

In der Revisionseinlegungsschrift des Angeklagten wird "Verletzung formellen und materiellen Rechts" gerügt. Die Revisionsbegründung macht sachlichrechtliche Ausführungen und bemängelt an einer Stelle "Versäumung der Aufklärungspflicht". Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.

A.Revision der Nebenklägerin

I.Die Verfahrensbeschwerde ist unbegründet. Das Schwurgericht hat ein Schreiben der Landes-Apothekerkammer Rheinland-Pfalz vom 29. April 1955 verlesen. Dieses äußert sich darüber, wie Chromsäure in der zahnärztlichen Praxis aufzubewahren ist.

Die Revision rügt zu unrecht eine Verletzung des § 256 Abs. 1 StPO. Das Schriftstück enthält, wie seine Fassung ergibt, nicht eine persönliche Meinungsäußerung des Professors Dr. v. Stokar, der es unterschrieben hat, sondern eine Stellungnahme der Landes-Apothekerkammer. Diese ist entgegen der Auffassung der Revision eine öffentliche Behörde. Ihre gutachtliche Äußerung durfte daher verlesen werden.

Die weitere Rüge, das Schwurgericht habe seiner Aufklärungspflicht nach § 244 Abs. 2 StPO nicht genügt, hat die Beschwerdeführerin in der Verhandlung vor dem Senat zurückgenommen.

II.Die Sachbeschwerde dringt im Ergebnis durch.

1.)Bei den bisherigen Feststellungen ist es allerdings nicht zu beanstanden, daß das Schwurgericht den Angeklagten nicht wegen Totschlags verurteilt hat. Es verneint den Tötungsvorsatz mit rechtlich einwandfreier Begründung. Im Urteil wird zwar, wie der Revision zuzugeben ist, die Frage des bedingten Vorsatzes nicht ausdrücklich erörtert. Er scheidet jedoch aus. Das ergibt sich deutlich aus dem Zusammenhang der Urteilsgründe. Der Angeklagte hat, wie das Schwurgericht als unwiderlegt ansieht, "bis zum Montag darauf vertraut, daß die D. die Chromsäurevergiftung überstehen und wieder gesunden werde" (UA S 19). Diese Einstellung des Angeklagten schließt die Annahme eines bedingten Tötungsvorsatzes aus.

Das Schwurgericht stellt zwar fest, der Angeklagte habe am Sonntag abend die Verschlechterung des Gesundheitszustandes erkannt, sie aber "bewußt in Kauf genommen und gebilligt", und sieht darin den bedingten Vorsatz der unterlassenen Hilfeleistung nach § 330 c StGB. Dies steht jedoch nicht, wie die Revision meint, in "einem gewissen logischen Widerspruch" zu der Verneinung des bedingten Tötungsvorsatzes. Denn der Angeklagte hatte, wie das Schwurgericht an dieser Stelle ausdrücklich sagt, die "Hoffnung, die D. werde schon durchkommen" (UA S 26).

Er erwartete dies also nicht nur, sondern wünschte es sogar. Demnach hatte er nicht den Vorsatz der Tötung, auch nicht in bedingter Form.

2.)Die Revision bemängelt jedoch mit Recht, daß das Schwurgericht nicht untersucht, ob sich der Angeklagte einer vorsätzlichen Körperverletzung durch Unterlassen schuldig gemacht hat.

Nach den Feststellungen des Urteils ist es zwar unwahrscheinlich, daß Lieselotte D. durch sofortige ärztliche Hilfe in einem Krankenhause gerettet worden wäre. Trotzdem kann sie im Sinne des § 223 StGB dadurch "an der Gesundheit beschädigt" worden sein, daß das Gift, das sie getrunken hatte, nicht alsbald sachgemäß bekämpft wurde und der Teil, den sie nicht ausgebrochen hatte, ungehindert in ihrem Körper wirkte. Es liegt nahe, daß der Vergiftungsprozeß bei ärztlichem eingreifen anders verlaufen wäre und sich ihr körperlicher Zustand ohne diese Gegenwirkungen schneller verschlechterte. Das würde für den äußeren Tatbestand einer Körperverletzung genügen.

Der Angeklagte hatte auch die Rechtspflicht, für alsbaldige ärztliche Behandlung zu sorgen.

Diese Verpflichtung zum Handeln folgt allerdings entgegen der Auffassung der Revision nicht aus § 330 c StGB. Nach dieser Bestimmung muß bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not jeder die erforderliche und ihm zumutbare Hilfe leisten. Er hat jedoch nicht auch dafür einzustehen, daß infolge des Unglücksfalles kein Erfolg eintritt, der zum Tatbestand der KörperVerletzung gehört (vgl BGHSt 3, 65 [BGH 10.06.1952 - 2 StR 180/52] [67]). Allein aus der allgemeinen Hilfspflicht nach § 330 c StGB läßt sich daher keine besondere Rechtspflicht herleiten, die Voraussetzung eines unechten Unterlassungsverbrechens ist (ebenso Dreher-Maaßen StGB 2. Aufl Vorbem 1 vor § 1; Kohlrausch-Lange StGB Vorbem II B II 3; Maurach Strafrecht Allg Teil S 240 und Besond Teil 2. Aufl S 409; Nagler LK Bd I S 33; Schönke-Schröder StGB Vorbem VII 1 g; Welzel Strafrecht 5. Aufl S 167).

Die Pflicht des Angeklagten zum Handeln ergab sich aber aus folgendem. Lieselotte D. hatte das Gift in seinem Behandlungszimmer aus dem unverschlossenen Arzneienschrank genommen. Sie hatte es getrunken, weil er sich von ihr nach einem längeren Liebesverhältnis in sehr schroffer Weise zugunsten einer anderen losgesagt hatte. Diese Tatsachen waren ihm bekannt. Ob darüber hinaus zum Vorsatz auch das Bewußtsein von der Rechtspflicht als solcher gehört, will der Senat jetzt noch nicht erörtern (vgl dazu Dallinger MDR 1956 S 271 rechte Spalte oben).

Der Strafverfolgung steht nicht entgegen, daß kein Strafantrag der Verletzten vorliegt. Er ist bei einer gefährlichen Körperverletzung (§ 223 a StGB) nicht nötig. Sie kommt hier in Betracht. Wenn sich, wie naheliegt, die Lebensgefahr für Lieselotte D. durch die Unterlassung des Angeklagten erhöhte, wurde die Körperverletzung "mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung begangen".

3.)Da das Urteil schon aus diesen Gründen mit den Feststellungen aufgehoben werden muß, braucht der Senat nicht auf die Angriffe einzugehen, die die Revision dagegen führt, daß das Schwurgericht den Angeklagten nicht wegen fahrlässiger Tötung verurteilt hat. Es genügt, für die neue Verhandlung auf folgendes hinzuweisen. Der ursächliche Zusammenhang zwischen der Unterlassung des Angeklagten und dem Tode der Lieselotte D. ist nicht schon dann ausgeschlossen, wenn sich das Schwurgericht nicht überzeugen kann, daß es den Ärzten gelungen wäre, die Kranke überhaupt am Leben zu erhalten. Er liegt vielmehr schon dann vor, wenn sich feststellen läßt, daß die Vergiftung erst zu einem späteren Zeitpunkte zum Tode geführt hätte, wenn alsbald ein Arzt zugezogen worden wäre.

B.Revision des Angeklagten

Das Rechtsmittel ist unbegründet.

I.Soweit die Revision "Versäumung der Aufklärungspflicht" rügt, ohne übrigens die nicht benutzten Beweismittel zu bezeichnen (vgl BGHSt 2, 168), beanstandet sie in Wahrheit die Anwendung des sachlichen Rechts.

II.Die Sachbeschwerde dringt nicht durch.

Aus den Feststellungen des Schwurgerichts ergeben sich die rechtlichen Merkmale des § 330 c StGB. Das gilt sowohl für die Fassung dieser Bestimmung, die zur Tatzeit galt, als auch für ihre jetzige, in der Strafdrohung mildere Form, die das Schwurgericht zugrunde legt (vgl § 2 Abs. 2 StGB).

1.)Darin, daß Lieselotte D. die gefährliche Chromsäure getrunken hatte, lag ein Unglücksfall im Sinne des § 330 c StGB. Das erkennt auch die Revision an. Sie deutet aber das Urteil zu Unrecht dahin, das Schwurgericht sehe in der Verschlechterung des Zustandes am Sonntag abend einen neuen Unglücksfall, In ahrheit geht das Schwurgericht davon aus, daß erst am Sonntag abend die schweren Folgen des Unglücksfalles in Erscheinung traten und der Angeklagte spätestens jetzt die Unzulänglichkeit seiner eigenen Hilfe erkannte. Es erübrigt sich daher, auf die Ausführungen der Revision über den Begriff des Unglücksfalles einzugehen. Sie liegen neben der Sache.

2.)Die Revision trägt ferner vor, am Sonntag abend habe das Leben der Lieselotte D. nicht mehr gerettet werden können. Hieraus folgert sie, es habe an dem äußeren Merkmal des § 330 c StGB gefehlt, daß Hilfe "erforderlich" war.

Das ist unrichtig.

Da im Befinden der Lieselotte D. eine deutliche Sendung zum Schlimmen eingetreten war, war es nötig, wenigstens jetzt einen Arzt zu rufen. Daran änderte sich einerseits nichts durch die Hoffnung des Angeklagten, sie "werde schon durchkommen". Andererseits hing die Notwendigkeit, für eine sachgemäße Behandlung zu sorgen, nicht davon ab, ob dadurch der Tod abgewendet wurde.

3.)Die Revision meint, der Angeklagte sei nicht verpflichtet, ja nicht einmal berechtigt gewesen, gegen den ausdrücklichen Wunsch der Kranken einen Arzt zu rufen.

Auch dieser Einwand ist unbegründet.

Das Schwurgericht führt aus, die Rechtswidrigkeit einer unterlassenen Hilfeleistung nach § 330 c StGB werde nicht dadurch beseitigt, daß das Opfer des Unglücksfalls keine Hilfe wolle. Es gebe bei diesem Vergehen keine rechtswirksame Einwilligung. Mindestens müsse der Einwilligende die Bedeutung seiner Erklärung erkennen. Daran habe es bei Lieselotte D. gefehlt. Sie habe am Leben bleiben wollen und hätte nicht auf ärztliche Hilfe verzichtet, wenn sie gewußt hätte, in welcher Gefahr sie schwebte. Wenn der Angeklagte dies verkannt habe, habe er "über die Einwilligung des Verletzten, also über einen Rechtfertigungsgrund" geirrt. Das sei ein Verbotsirrtum.

Dieser sei unentschuldbar gewesen (UA S 27).

Ob jeder Punkt dieser Begründung frei von Rechtsirrtum ist, kann dahinstehen. Im Ergebnis trifft sie zu.

Wie sich aus den Feststellungen des Urteils ergibt, hatte Lieselotte D. die Heranziehung eines Arztes zu einer Zeit abgelehnt, als es ihr scheinbar besser ging und auch der Angeklagte glaubte, es bestehe keine Gefahr (UA S 11). Am Abend verschlechterte sich jedoch ihr Befinden in besorgniserregender Weise. Sie wußte nicht, wo sie sich befand, und erkannte zeitweilig niemanden (UA S 12).

Ihr Bewußtsein war also so sehr herabgesetzt, daß sie keinen rechtlich erheblichen Willen mehr hatte, der einer Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe entgegenstehen konnte. Die starke Trübung ihres Bewußtseins ist dem Angeklagten, wie die Urteilsgründe erkennen lassen, nicht entgangen. Er wußte also, daß zu dieser Zeit nicht mehr die Einwilligung der Verunglückten dazu vorlag, daß er es unterließ, einen Arzt zu rufen, wie es seine Hilfspflicht gebot. War er der Ansicht, sich demgegenüber darauf berufen zu können, daß Lieselotte D. im Laufe des Tages unter ganz anderen Verhältnissen keine ärztliche Hilfe gewünscht hatte, so glaubte er an einen Rechtfertigungsgrund, den die Rechtsordnung nicht kennt. Das Schwurgericht hat daher im Ergebnis mit Recht einen Verbotsirrtum angenommen. Seine Auffassung, daß dieser Irrtum vermeidbar war, ist rechtlich nicht zu beanstanden.

4.)Die Behauptung der Revision, der Angeklagte habe im Mai 1953 die Prüfung als Zahnarzt abgelegt und mit Rückwirkung vom 29. Mai 1953 die Bestallung als Zahnarzt erhalten, er sei daher selbst "als Arzt zu betrachten", kann schon deshalb nicht berücksichtigt werden, weil diese Tatsachen im Urteil nicht festgestellt sind. Sollte die Revision aus ihnen herleiten wollen, es sei unnötig gewesen, einen praktischen Arzt herbeizurufen, so wäre dieser Einwand offensichtlich unbegründet. Das gilt auch, soweit die Revision als "Versäumung der Aufklärungspflicht und Mangel der Begründung" rügt, das Schwurgericht habe nicht berücksichtigt, daß ein Arzt nicht gegen den Willen des Kranken handeln dürfe.

5.)Daß es dem Angeklagten zuzumuten, insbesondere ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich war, für ärztliche Hilfe zu sorgen, legt das Schwurgericht ohne Rechtsirrtum dar (UA S 27). Vergeblich wendet die Revision ein, der Angeklagte habe ein Strafverfahren wegen der offenen Aufbewahrung der Chromsäure befürchtet, mit Maßnahmen der Berufsvertretung und erheblichen Nachteilen für seine Praxis gerechnet und die Besorgnis gehabt, Lieselotte D. schweren Vorwürfen ihrer Mutter und Schwierigkeiten an ihrer Arbeitsstelle auszusetzen. Die Abwägung widerstreitender Belange ist in erster Linie Sache des Tatrichters. Das Urteil erwähnt zwar die von der Revision hervorgehobenen Gesichtspunkte nicht. Hat es ihnen keine wesentliche Bedeutung beigemessen, so ist das im vorliegenden Falle kein Rechtsirrtum.

6.)Schließlich sind die Einwendungen der Revision gegen die Strafzumessung unbegründet. Das Schwurgericht war rechtlich nicht gehindert, die große Gewissen- und Gefühllosigkeit des Angeklagten, die sich aus der Vorgeschichte und den Begleitumständen der Tat ergibt, strafschärfend zu verwerten. Mit Angriffen gegen die Feststellungen des Urteils und neuen Behauptungen kann die Revision nicht gehört werden.

Der Oberbundesanwalt hat beantragt, beide Revisionen zu verwerfen.