Bundesgerichtshof
Entscheidung vom 03.04.1962, Az.: 5 STR 580/61
Tenor
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts in Kiel vom 5. April 1961 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an das Landgericht zurückverwiesen.
Entscheidungsgründe
Der Angeklagte hatte Berufung gegen ein Urteil des Amtsgerichts in Kiel eingelegt. In der Berufungsverhandlung am 31. Oktober 1960 vernahm ihn die Strafkammer zur Person und Sache, hörte einen Zeugen, setzte dann die Hauptverhandlung aus und ordnete die Ladung weiterer Zeugen an. In der neuen Berufungsverhandlung am 5. April 1961 blieb der Angeklagte unentschuldigt aus, obwohl er rechtzeitig ordnungsgemäà geladen worden war. Die Strafkammer verwarf daher seine Berufung nach § 329 Abs. 1 StPO.
Das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht hält die Revision des Angeklagten, die Verletzung des § 329 StPO rügt, für unbegründet. Es will von den Revisionsurteilen der Oberlandesgerichte Hamm (JMBl NRW 1958, 89) und Celle (GA 1960, 316) abweichen, die auf der Rechtsansicht beruhen, daà eine Berufung nicht mehr nach § 329 Abs. 1 StPO verworfen werden darf, wenn das Berufungsgericht über sie schon in einem früheren Termin verhandelt hat. Darum hat das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht die Sache mit Recht dem Bundesgerichtshof gemäà § 121 Abs. 2 GVG vorgelegt (vgl. BGH MDR 1955, 754; BGHSt 7, 314).
Der Generalbundesanwalt ist dem VorlegungsbeschluÃ, der sich hauptsächlich auf die Ausführungen von Schneidewin NJW 1961, 841 (Anm. zu Nr. 19) stützt, auch in der Sache beigetreten. Der Senat vermag dem jedoch nicht zu folgen. Er hält vielmehr an der Gegenmeinung fest, die sich in der höchstrichterlichen Rechtsprechung durchgesetzt hat.
Der § 329 Abs. 1 StPO soll einen Angeklagten, der Berufung eingelegt hat, daran hindern, die Entscheidung über sein Rechtsmittel dadurch zu verzögern, daà er sich der Verhandlung entzieht. Die Bestimmung dient also der Beschleunigung des Verfahrens. Sie nimmt dabei grundsätzlich die Möglichkeit in Kauf, daà ein sachlich unrichtiges Urteil allein darum rechtskräftig wird, weil der Angeklagte in der Berufungsverhandlung ohne genügende Gründe ausgeblieben ist. In § 329 Abs. 1 StPO stoÃen also zwei berechtigte Gedanken zusammen, nämlich das Bedürfnis nach einer Beschleunigung des Verfahrens und das Streben nach einer möglichst gerechten Entscheidung, das dem Strafverfahrensrecht im ganzen eigen ist. Das rechte Verhältnis zwischen beiden muà auch bei der Auslegung dieser Vorschrift gewahrt bleiben. Das meinte wohl schon das Reichsgericht mit seinen Worten, es handele sich um eine Ausnahmebestimmung, die für einen Angeklagten unter Umständen sehr gefährlich werden könne und daher auf das engste auszulegen sei (RGSt 61, 278, 280).
Muà das Berufungsgericht über dieselbe Sache zum zweiten Male verhandeln, so ist dies zwar nicht immer, aber oft ein Zeichen dafür, daà das angefochtene Urteil wegen tatsächlicher oder rechtlicher Schwierigkeiten nicht ohne weiteres aufrecht zu erhalten, seine Dichtigkeit also zweifelhaft ist. Dies kann vor allem dann gelten, wenn schon ein Berufungsurteil vom Revisionsgericht aufgehoben und die Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen worden ist. So lag es bei den oben erwähnten Entscheidungen der Oberlandesgerichte Celle und Hamm. Der Senat hat diesen beiden Gerichten Gelegenheit gegeben, zu dem Vorlegungsbeschluà Stellung zu nehmen. Das Oberlandesgericht Celle hat mit Recht darauf hingewiesen, daà sich in solchen Fällen ein Konflikt zwischen § 329 Abs. 1 StPO und anderen verfahrensrechtlichen Grundsätzen, insbesondere dem Verschlechterungsverbot des § 358 Abs. 2 StPO, ergeben kann. Wenn das Verfahren z.B. drei Taten betrifft, das Revisionsgericht den Angeklagten von dem Vorwurf der einen freigesprochen und die Sache hinsichtlich der beiden anderen an das Berufungsgericht zurückverwiesen hat, ist es nicht mehr möglich, die Berufung des ausbleibenden Angeklagten im vollen Umfange nach § 329 Abs. 1 StPO zu verwerfen. Wird die Verwerfung auf die beiden noch anhängigen Fälle beschränkt, so fehlt es an einer Gesamtstrafe, und es entsteht die Zweifelsfrage, ob sie nachträglich durch Beschluà nach § 460 StPO gebildet werden darf. Hat das Revisionsgericht eine Verurteilung wegen Untreue zu Gefängnis- und Geldstrafe aufgehoben und die Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen, weil Untreue ausscheide und nur Unterschlagung in Betracht komme, so würde, bleibt der Angeklagte in der neuen Berufungsverhandlung aus, die Anwendung des § 329 Abs. 1 StPO dann zu einer sachlich offensichtlich unrichtigen Entscheidung führen, wenn schon das Amtsgericht ebenso entschieden hatte wie das Berufungsgericht in seinem aufgehobenen Urteil. So sehr darf die Gerechtigkeit nicht zugunsten der Beschleunigung verkürzt werden. Das MiÃverhältnis wird noch krasser, wenn das Berufungsgericht in seinem ersten Urteil nicht, wie das Amtsgericht, Untreue, sondern nur Unterschlagung angenommen und eine geringere Strafe verhängt hatte, das Revisionsgericht aber selbst dieses Urteil aufgehoben und die Sache zurückverwiesen hat, weil sogar gegen die Verurteilung wegen Unterschlagung Bedenken bestehen. SchlieÃlich erscheint § 329 Abs. 1 StPO undurchführbar, wenn das Revisionsgericht den Schuldspruch geändert und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung über die Strafe an das Berufungsgericht zurückverwiesen hat.
Den Grundsatz der bisherigen Rechtsprechung auf die Fälle zu beschränken, in denen sich das Revisionsgericht mit der Sache befaÃt hat, ist schon im Interesse einer einheitlichen und leicht zu handhabenden Regelung nicht angebracht. AuÃerdem könnte die Auffassung des Vorlegungsbeschlusses auch in den übrigen Fällen zu Schwierigkeiten führen, z.B. wenn das Berufungsgericht in seiner ersten Verhandlung das Verfahren wegen eines Teils der Taten nach § 153 Abs. 3 oder § 154 Abs. 2 StPO eingestellt hat, so daà die Gesamtstrafe neu zu bilden ist.
Aus allen diesen Gründen verdient die alte und im allgemeinen bewährte Rechtsprechung den Vorzug. Nach ihr kann das angefochtene Urteil nicht bestehen bleiben. Feststellungen über den Sachverhalt sind nicht vorhanden, also auch nicht aufzuheben.