Bundesgerichtshof
Entscheidung vom 20.11.1995, Az.: II ZR 209/94
Tatbestand
Die Klägerin war alleinige Gesellschafterin und Geschäftsführerin der der d.-M. GmbH mit Sitz in F. Die Gesellschaft verfügte über ein Stammkapital in Höhe von 50.000, 00 DM und befaßte sich mit Konzertveranstaltungen. Bei der d.-M. GmbH war der Zeuge S., der Vater des Beklagten zu 2 und damalige Lebensgefährte der Klägerin, angestellt. Nachdem sie sich mit dem Zeugen S. zerstritten und die Lebensgemeinschaft mit ihm beendet hatte, trat die Klägerin mit notarieller Urkunde vom 1. Dezember 1988 Geschäftsanteile der d. -M. GmbH in Höhe von insgesamt 22.500,00 DM an den Beklagten zu 2 und die übrigen Geschäftsanteile in Höhe von 27.500, 00 DM an den Beklagten zu q ab. In der Urkunde wurde weiter vereinbart, daß die Beklagten zu 1 und 2 "hierfür alle Verbindlichkeiten der d.-M. GmbH (auch rückständige Steuerschulden) und mit sofortiger Wirkung die Zahlung aller Betriebskosten" übernehmen. Ferner ist in der Urkunde die Erklärung der Beklagten enthalten, daß ihnen die Geschäftsbücher der Gesellschaft nicht zur Einsicht vorgelegen hatten, und die trotz Hinweises des Notars auf die damit verbundenen Risiken auf der sofortigen Protokollierung bestanden.
Die Übernahme der Geschäftsanteile war durch den Zeugen S. vermittelt worden; dieser hatte auch die Vertragsverhandlungen mit den Beklagten geführt.
Die Beklagten führten die Geschäfte der Gesellschaft zunächst weiter. Am 24. Oktober 1989 stellten sie Konkursantrag wegen Überschuldung der Gesellschaft. Die Eröffnung des Konkurses wurde mangels Masse abgelehnt. Mit Schreiben vom 21. September 1989 fochten die Beklagten ihre "Willenserklärungen, die zum notariellen Kaufvertrag geführt haben", wegen arglistiger Täuschung über die Höhe der Gesellschaftsverbindlichkeiten an.
Mit Bescheid vom 8. August 1990 wurde die Klägerin vom zuständigen Finanzamt wegen rückständiger Steuerschulden der GmbH von 80.950, 35 DM gemäß § 69 AO persönlich in Anspruch genommen. Unter Berufung auf die Übernahmeerklärung der Beklagten im notariellen Vertrag vom 1. Dezember 1988 verlangte die Klägerin von diesen die Zahlung des genannten Betrages an das Finanzamt.
Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht die Klage abgewiesen. Die Hilfsanschlußberufung, mit der die Klägerin beantragte, die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, sie von ihrer Verpflichtung zur Zahlung sämtlicher rückständiger Steuerschulden für die Firma d.-M. GmbH (inzwischen auf 115.232, 35 DM beziffert) freizustellen, hat das Oberlandesgericht zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt die Klägerin ihre Anträge aus der Klage und der Hilfsanschlußberufung weiter.
Die Revision führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
1. Nach Ansicht des Berufungsgerichts ist der Hauptantrag der Klägerin schon deswegen unbegründet, weil selbst bei wirksamer Erfüllungsübernahme der Schuldner vom Übernehmer nicht Leistung an den Gläubiger, sondern lediglich Freistellung verlangen könne. Auch dieser hilfsweise geltend gemachte Anspruch stehe der Klägerin aber nicht zu, weil die Beklagten den zugrundeliegenden Antrag zu Recht wegen arglistiger Täuschung angefochten hätten. Der Zeuge S. habe über die Höhe der Gesellschaftsverbindlichkeiten falsche Angaben gemacht. Diese für den Vertragsschluß kausale Täuschungshandlung müsse sich die Klägerin zurechnen lassen.
Entscheidungsgründe
2.Die Revision rügt zu Recht, daß das Berufungsgericht die Ursächlichkeit der Täuschung für den Vertragsschluß nach den Grundsätzen des Anscheinsbeweises freigestellt hat.
Der Bundesgerichtshof hat wiederholt entschieden, daß der ursächliche Zusammenhang zwischen Täuschung und Vertragsabschluß nicht mittels Anscheinsbeweises festgestellt werden kann (Sen. Urt. v. 10. April 1958 - II ZR 324/56, WM 1958, 991, 992; Urt. v. 20. September 1968 - V ZR 137/65, NJW 1968, 2139). Dies hat seinen Grund darin, daß der Anscheinsbeweis nach der ständigen Rechtsprechung einen typischen Geschehensablauf voraussetzt, die einem Vertragsschluß zugrundeliegende Willensentscheidung jedoch von den individuellen Umständen des Einzelfalles abhängig ist. Ob bei bestimmten Rechtsgeschäften und unter besonderen Umständen aufgrund der allgemeinen Lebenserfahrung eine ausreichende Typizität bejaht werden kann (so Urt. v. 12. November 1957 - VIII ZR 311/56, NJW 1958, 177; v. 5. Dezember 1975 -
- V ZR 34/74, WM 1976, 111, 113; v. 12. Mai 1995
- V ZR 34/94, NJW 1995, 2361, 2362), kann dahinstehen, denn ein solcher Fall liegt nicht vor. Hier muß vielmehr eine ganz besondere Motivlage bei den Beklagten bestanden haben, welche sie veranlaßt hat, trotz fehlender Büchereinsicht und trotz der Warnung des Notars vor den damit verbundenen Risiken sämtliche Verbindlichkeiten der GmbH zu übernehmen. Ein solches Verhalten ist alles andere als typisch und entzieht sich von vornherein einer Beurteilung nach den Grundsätzen des Anscheinsbeweises.
Auf der fehlerhaften Heranziehung dieser Grundsätze beruht die angefochtene Entscheidung, denn das Berufungsgericht hat die Klägerin für verpflichtet gehalten, den Anscheinsbeweis der Kausalität zu erschüttern, anstatt von den Beklagten den Nachweis derselben zu verlangen. Ob sie diesen Beweis hätten führen können, ist im Revisionsverfahren nicht feststellbar, so daß das Urteil schon aus diesem Grund aufgehoben werden muß.
3. Keinen Bestand kann das Berufungsurteil auch insoweit haben, als es die Täuschungshandlung des Zeugen S. der Klägerin zurechnet. Der Revision ist darin beizutreten, daß das Berufungsgericht hierbei erheblichen Prozeßstoff übergangen und das materielle Recht nicht richtig angewendet hat.
Das Berufungsgericht hat einen Anspruch der Klägerin auf Befreiung von ihrer Haftung für die Steuerrückstände der GmbH mit der Begründung verneint, daß der Übernahmevertrag von den Beklagten wegen arglistiger Täuschung angefochten worden ist. Die Klägerin müsse sich die falschen Angaben des Zeugen S. über den Schuldenstand der GmbH zurechnen lassen, auch wenn sie ihn nicht mit den Vertragsverhandlungen beauftragt hatte, denn jedenfalls habe sie durch den Vertragsabschluß sein eigenmächtiges Vorgehen genehmigt. S. sei infolgedessen kein Dritter im Sinne des § 123 Abs. 2 S.1 BGB, so daß es nicht darauf ankomme, ob die Klägerin die Täuschung kannte oder kennen mußte.
Eine derart weitgehende Einengung des Anwendungsbereichs von § 123 Abs. 2 S. 1 BGB findet in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs keine Stütze und ist, soweit ersichtlich, auch im Schrifttum noch nicht vertreten worden. Nach der gefestigten Rechtsprechung des BGH ist ein am Zustandekommen eines Vertrages Beteiligter dann nicht als "Dritter" im Sinne dieser Vorschrift anzusehen, wenn sein Verhalten dem des Anfechtungsgegners gleichzusetzen ist (Urt. v. 9. April 1992 - IX ZR 145/91, WM 1992, 1016 [BGH 09.04.1992 - IX ZR 145/91]; v. 8. Dezember 1989 - V ZR 259/87, WM 1990, 479, 480 m.w.N.). Dies ist über den Bereich der gesetzlichen oder rechtsgeschäftlichen Vertretung hinaus auch bejaht worden bei einem vom Erklärungsempfänger beauftragten Verhandlungsführer oder -gehilfen (BGHZ 47, 224, 230 f. [BGH 20.02.1967 - III ZR 40/66]; Urt. v. 17. Oktober 1980 - V ZR 30/79, WM 1980, 1452, 1453) sowie bei einem Beteiligten, dessen Verhalten dem Erklärungsempfänger wegen besonders enger Beziehungen zwischen beiden oder wegen sonstiger besonderer Umstände billigerweise zugerechnet werden muß (Urt. v. 1. Juni 1989 - III ZR 261/87, WM 1989, 1364, 1366; v. 8. Dezember 1989 aaO., m.w.N.).
Wer dagegen einen Vertragsabschluß lediglich vermittelt, z.B. als Makler, ist "Dritter", dessen Täuschungshandlung sich der Erklärungsempfänger nur bei Kenntnis oder Kennenmüssen zurechnen lassen muß (Urt. v. 6. Juli 1978 - III ZR 63/76, NJW 1978, 2144). Gleiches muß im Grundsatz gelten, wenn eine Person aus eigenem Antrieb einen Vertragsabschluß anbahnt; sie kann ihre Eigenschaft als "Dritter" auch nicht dadurch verlieren, daß der Vertrag schließlich zustande kommt. Allenfalls bei nachträglicher Billigung ihres Auftretens als Verhandlungsgehilfe durch den Vertragschließenden (Schubert AcP 168 (1968), 470, 482) oder bei Vorliegen oben erwähnter Billigkeitsgesichtspunkte kommt eine Zurechnung in Betracht.
Im vorliegenden Fall ist lediglich festgestellt, daß die Klägerin den vom Zeugen S. angebahnten Vertrag abgeschlossen hat. Dies besagt jedoch weder, daß S. als Verhandlungsführer auf ihrer Seite aufgetreten ist, noch ergibt sich daraus, daß die Klägerin ein solches Auftreten gebilligt hat. Die Revision beanstandet zu Recht, daß das Berufungsgericht sich nicht mit dem klägerischen Vortrag auseinandergesetzt hat, S. habe mit dem Übernahmevertrag lediglich eigene Interessen verfolgt; es sei ihm darum gegangen, die Klägerin aus der Gesellschaft zu drängen und seinen Sohn an ihre Stelle zu setzen (GA 247). Hierzu hätte schon deswegen Anlaß bestanden, weil schwer vorstellbar ist, daß S. bei der Vertragsanbahnung zwischen der Klägerin - seiner ehemaligen Lebensgefährtin, mit der er inzwischen in heftigem Streit lag - und den Beklagten - seinem Sohn und dessen Freund - ausgerechnet als Interessenwahrer der ersteren aufgetreten sein soll. Hinzu kommt, daß der Zeuge S. selbst ausgesagt hat, es sei darum gegangen, eine Präsenz seiner Familie in der Gesellschaft zu erreichen und seinem Sohn noch Einnahmen vor Beginn seines Studiums zu verschaffen (GA 257). All dies hat das Berufungsgericht, wie die Revision ausdrücklich rügt, ebenso übergangen wie die Schilderung des Zeugen K. (GA 289 f.), derzufolge S. eher als Verhandlungsgegner der Klägerin denn als ihr Verhandlungsgehilfe aufgetreten ist.
Ob Billigkeitsgründe es gebieten, das Verhalten des Zeugen S. der Klägerin zuzurechnen, hat das Berufungsgericht nicht geprüft. Auch bei dieser Prüfung müßte der als übergangen gerügte Tatsachenstoff berücksichtigt werden.
4. Mit Erfolg greift die Revision schließlich auch die Feststellung an, der Zeuge S. habe die Beklagten arglistig getäuscht. Das Berufungsgericht hätte sich auch in diesem Punkt damit auseinandersetzen müssen, daß es sich bei dem Beklagten zu 2 um den Sohn des S. handelt. Es drängt sich die Frage auf, welches Interesse S. haben konnte, seinen Sohn in betrügerischer Weise zum Erwerb von Anteilen an einer völlig überschuldeten GmbH zu veranlassen. Auch nach dem den Erwerbern zur Kenntnis gegebenen Schuldenstand mußten diese im übrigen davon ausgehen, daß sie eine konkursreife Gesellschaft erwarben. Vor diesem Hintergrund könnte auch der Behauptung der Klägerin Bedeutung zukommen, den Beklagten sei es auf den Schuldenstand überhaupt nicht angekommen; sie seien daran interessiert gewesen, die Verträge der d.-M. GmbH (mit Pop-Gruppen und -Sängern) auf andere Unternehmen überzuleiten, um die GmbH dann zu schließen (BU 8). Auch darauf ist das Berufungsgericht nicht eingegangen, sondern hat den Sachverhalt so gewürdigt, als habe S. gutgläubige Käufer mit falschen Angaben über den Schuldenstand zum Erwerb der maroden GmbH veranlaßt.
Ob die Beklagten den Übernahmevertrag wirksam angefochten haben, kann wegen der mangelhaften Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts gegenwärtig nicht beurteilt werden. Dem Berufungsgericht ist durch Zurückverweisung der Sache Gelegenheit zu geben, hierzu sowie gegebenenfalls zur Ursächlichkeit der Täuschung die erforderlichen Feststellungen zu treffen.
5. Für den Fall, daß das Berufungsgericht aufgrund der erneuten Verhandlung zur Annahme einer wirksamen Übernahmeverpflichtung der Beklagten gelangt, wird auf folgendes hingewiesen:
a) Gegen die rechtliche Qualifizierung der von den Beklagten eingegangenen Verpflichtung als Erfüllungsübernahme bestehen keine Bedenken. Eine solche kann auch in der Form vereinbart werden, daß der Versprechende sich dem Versprechensempfänger gegenüber verpflichtet, einen anderen Schuldner (hier: die GmbH) von dessen Verbindlichkeit freizustellen (sog. Drittschuldtilgungsvertrag, vgl. Gernhuber, Die Erfüllung und ihre Surrogate, 2. Aufl. § 22 I).
b) Die Annahme des Berufungsgerichts, daß bei der Erfüllungsübernahme grundsätzlich nicht auf Leistung an den Gläubiger, sondern nur auf Befreiung geklagt werden kann, trifft im Grundsatz zu (vgl. W. Gerhardt, Der Befreiungsanspruch (1966) S. 13). Dieser Grundsatz gilt jedoch nicht ausnahmslos; aus der Art der zu erfüllenden Verbindlichkeit kann sich vielmehr ergeben, daß als Erfüllungshandlung nur die Zahlung in Betracht kommt (W. Gerhardt aaO. S. 12).
Ein solcher Fall könnte hier vorliegen. Für die Erfüllung von Steuerschulden durch einen Dritten, wie sie hier verlangt wird
wird, kann ein anderer Weg als der der Zahlung kaum in Betracht gezogen werden. Die Vereinbarung einer befreienden Schuldübernahme mit dem Finanzamt kommt nicht in Frage, weil diese einem unzulässigen Verzicht auf bestehende Steueransprüche gleichkäme (Kühn/Kutter/Hofmann, AO 15. Aufl., § 48 Anm. 3); ebenso scheidet ein Erlaßvertrag aus, weil ein Erlaß von Steuerschulden nur in der Form einer Verwaltungsentscheidung nach § 227 AO möglich ist. Eine Aufrechnung mit etwaigen Ansprüchen des Dritten gegen den Fiskus scheitert schon an der fehlenden Gegenseitigkeit nach § 387 BGB.
Somit könnte, falls die Anfechtung der Beklagten nicht durchgreift, nach dem Hauptantrag der Klägerin (Zahlung an das Finanzamt) erkannt werden.