zurück zur Übersicht

Bundesgerichtshof

Entscheidung vom 05.12.1956, Az.: IV ZR 201/56

Tenor

Die Revision des beklagten Landes gegen das Urteil des 3. Zivilsenats (Entschädigungssenats) des Oberlandesgerichts in Koblenz vom 12. Juni 1956 wird zurückgewiesen. Das Verfahren im Revisionsrechtszug ist gebühren- und auslagenfrei. Das beklagte Land hat der Klägerin die ihr erwachsenen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Von Rechts wegen

Tatbestand

Wegen des Sach- und Streitstandes wird auf das in dieser Sache ergangene Urteil des Bundesgerichtshofs vom 7. Januar 1956 - IV ZR 273/55 - Bezug genommen. In diesem Urteil hat der Bundesgerichtshof die Entscheidung des Berufungsgerichts aufgehoben, die Klage wegen eines Teilbetrages in Höhe von 5.020,- DM abgewiesen und wegen des Restbetrages die Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Auf Grund der erneuten mündlichen Verhandlung hat dieses die Berufung des beklagten Landes gegen das Urteil der Entschädigungskammer des Landgerichts erneut zurückgewiesen, soweit die Klage nicht bereits durch Urteil des Bundesgerichtshofs abgewiesen worden war.

Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision erstrebt das beklagte Land die völlige Abweisung der Klage. Die Klägerin hat um Zurückweisung der Revision gebeten.

Entscheidungsgründe

1.Das erste Urteil des Berufungsgerichts konnte, wie in dem Urteil des Senats vom 7. Januar 1956 dargelegt worden ist, nicht bestehen bleiben, weil die im Jahre 1940 gegen die Zigeuner im Westen des Reichs durchgeführte Umsiedlungsaktion, von der auch die Klägerin betroffen wurde, keine Verfolgungsmaßnahme im Sinne des §1 BErgG war. Auf die Gründe des ersten Revisionsurteils wird insoweit Bezug genommen. Nach der im Entschädigungsverfahren gemäß §98 Abs. 3 BErgG anzuwendenden Vorschrift des §565 ZPO konnte der Bundesgerichtshof jedoch damals nicht nach §565 Abs. 3 a.a.O. in vollem Umfang in der Sache selbst entscheiden, weil der Berufungsrichter sich mit der Frage nicht befaßt hatte, ob die Klägerin nicht nach dem 1. März 1943 auf Grund des sog. Auschwitz-Erlasses vom 16. Dezember 1942 bezw. 29. Januar 1943, also aus Gründen der Rassenverfolgung, festgehalten worden war. Wie in dem ersten Revisionsurteil näher dargelegt ist, bedeutete dieser Erlaß eine entscheidende Wendung in der "Zigeunerpolitik" des Nationalsozialismus, weil das mit diesem Erlaß verfolgte Endziel deutlich die gänzliche Ausrottung der im Herrschaftsbereich der nationalsozialistischen Gewalthaber lebenden Zigeuner war. Unmittelbar aus dieser Tatsache den Schluß zu ziehen, auch die im Gebiet des Generalgouvernements lebenden Zigeuner seien von diesem Erlaß betroffen, verbot sich für den Revisionsrichter, der grundsätzlich keine tatsächlichen Feststellungen zu treffen, sondern die von dem Berufungsrichter gemachten tatsächlichen Feststellungen seiner Entscheidung zugrunde zu legen hat, deswegen, weil der Erlaß sich an die Leiter der Kriminalpolizeistellen des Reichs (mit Ausnahme des der Leitstelle Wien) richtete, also die in Polen festgehaltenen Zigeuner nicht unmittelbar betraf. Die Auswirkungen dieses Erlasses auf die Behandlung dieser Zigeuner mußten daher noch ermittelt und soweit als möglich durch den Tatsachenrichter festgestellt werden. Bei der Ermittlung dieser Tatsachen war der Berufungsrichter aber frei (§286 ZPO); die Hinweise des ersten Revisionsurteils banden ihn nicht und sollten und konnten ihn auch nicht binden. Sie waren nicht mehr als eine Begründung dafür, daß der Bundesgerichtshof nicht endgültig erkannt (§565 Abs. 3 Nr. 1 ZPO), sondern entsprechend der Regel in §565 Abs. 1 a.a.O. die Sache zurückverwiesen hat. Wenn die Revision aus den Ausführungen des ersten Revisionsurteils auf Seite 16 f den Schluß zieht, der Bundesgerichtshof hätte den Berufungsrichter in irgendeiner Weise hinsichtlich der zu treffenden Feststellungen gemäß §565 Abs. 2 ZPO gebunden, so verkennt sie die Bedeutung dieser Darlegung im Revisionsurteil für das weitere Verfahren vor der Tatsacheninstanz.

2.In dem zweiten Berufungsurteil geht der Berufungsrichter davon aus, weitere Feststellungen in der Sache seien ihm nicht möglich. Es sei insbesondere nicht eindeutig zu klären, ob der Auschwitz-Erlaß unmittelbar auch gegen die nach Polen verbrachten Zigeuner durchgeführt worden sei oder durchgeführt werden sollte. Dies liege jedoch sehr nahe, wie auch der Bundesgerichtshof ausgeführt habe. Es komme nicht darauf an, ob Zigeuner aus Polen nach Auschwitz verbracht worden seien, darüber sei nichts bekannt geworden. Das Berufungsgericht habe aber keinen Zweifel daran, daß mindestens seit dem Zeitpunkt des Auschwitz-Erlasses auch die Zigeuner in Polen zwecks Durchführung der rassenpolitischen Ziele des Nationalsozialismus bereit gehalten worden seien. Wie auch unzählige Juden in den letzten Jahren des Krieges gerade auch in den polnischen Gebieten vergast oder auf andere Weise umgebracht worden seien, so habe auch der genannte Erlaß eine "Endlösung" in ähnlichem Sinne für die Zigeuner vorgesehen. Es sei kein Grund dafür ersichtlich, daß die dort in Polen lebenden Zigeuner von dem ihren Rassegenossen zugedachten Los allgemein hätten verschont bleiben sollen. Dies genüge für die Annahme, daß jedenfalls seit dem 1. März 1943 die Klägerin in Polen aus rassischen Gründen festgehalten worden sei. Weitere Ermittlungen in dieser Richtung wären, wenn überhaupt, nur mit unverhältnismäßigen Schwierigkeiten möglich. Amtliche Unterlagen aus der damaligen Zeit seien nicht mehr vorhanden. Auch Zeugen, die über die von den nationalsozialistischen Machthabern gehegten Absichten hinsichtlich der Zigeuner in Polen gehört werden könnten, seien bisher nicht bekannt geworden.

Der Berufungsrichter kommt dann zu dem Ergebnis, in Anwendung des §83 BErgG sei daher zugunsten der Klägerin für festgestellt zu erachten, daß sie seit dem 1. März 1943 nicht aus militärischen, sicherheitspolizeilichen oder sonstigen Gründen, sondern jedenfalls in erster Linie und ausschlaggebend aus rassischen Gründen, nämlich weil sie Zigeunerin sei, festgehalten worden sei. Es lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, daß die Klägerin, die ihren festen Wohnsitz in Koblenz gehabt habe und nicht vorbestraft sei, etwa deshalb nach Polen verbracht worden wäre, weil sie persönlich als asoziales Element angesehen worden wäre.

3.Das Rechtsbedenken der Revision, diese Feststellungen beruhten auf einer Verletzung der §§286 ZPO und §83 BErgG (jetzt §176 BEG), ist nicht begründet

a)Es ist bereits oben darauf hingewiesen worden, daß die Gründe des ersten Revisionsurteils dem Berufungsrichter hinsichtlich der zu treffenden Feststellungen irgendwelche Bindungen nicht auferlegten. Der Berufungsrichter war daher durch die Vorschrift des §565 Abs. 2 ZPO nicht gehindert, aus dem Auschwitz-Erlaß allein ohne weitere Ermittlungen Schlüsse in der Richtung zu ziehen, aus ihm sei zu entnehmen, daß das Festhalten der Zigeuner in Polen der Durchführung der rassenpolitischen Ziele der nationalsozialistischen Gewalthaber gedient habe. Weder Denkgesetze noch Erfahrungsregeln sind insoweit verletzt.

b)Der Berufungsrichter hat auch nicht, wie die Revision meint, verkannt, daß ein lückenloser Beweis hier nicht geführt werden kann. Es ist der Revision zuzugeben, daß durch §83 Abs. 1 BErgG (jetzt: 176 Abs. 1 BEG) die Verfolgten zwar der Mühe der Beweisführung, nicht aber den Folgen der Beweislosigkeit enthoben sind. Es kann ihr aber nicht zugestanden werden, daß die Klägerin gänzlich beweislos geblieben sei. Die Revision verkennt damit die Bedeutung des Auschwitz-Erlasses als eines außerordentlich wichtigen Zeugnisses für die Absicht des nationalsozialistischen Regimes, die Zigeuner ebenso wie die Juden als minderwertige Rasse auszurotten. Der erkennende Senat hat darauf schon in dem ersten Revisionsurteil hingewiesen, wenn er dort ausführt, "es liege nahe, anzunehmen, bereits in der Gewalt der Machthaber außerhalb des eigentlichen Gebietes aber im Herrschaftsbereich des sog. Großdeutschen Reiches befindliche Zigeuner sollten von diesen Maßnahmen mitumfaßt werden". Dieser Hinweis beruht auf dem gesamten Inhalt dieses Erlasses. Durch ihn wurde nicht nur angeordnet, daß unbestimmte Gruppen von Zigeunern in das als Vernichtungslager bekannte Konzentrationslager einzuweisen seien. Darüber hinaus wurde vielmehr bestimmt, daß bei den nicht der Einweisung unterworfenen Gruppen von Zigeunern die "Einwilligung" zur Unfruchtbarmachung zu "erstreben" sei. Dabei wurde auch vorgesehen, daß bei Personen unter 12 Jahren die "Einwilligung" von dem gesetzlichen Vertreter abzugeben sei. Der Auschwitz-Erlaß zielte damit auf eine gänzliche Ausrottung der Zigeuner hin. Es kann daher nicht gesagt werden, die Klägerin sei gänzlich beweislos. Es liegt in der Natur der Sache, daß besondere Anordnungen wie sie in dem Auschwitz-Erlaß und durch Schnellbrief vom 29. Januar 1943 getroffen wurden, bezüglich derjenigen Angehörigen "minderwertiger" Rassen, die sich bereits in der Gewalt ihrer Verfolger befanden, nicht notwendig waren. Die Voraussetzungen für die Anwendung des §83 Abs. 2 BErgG sind somit hier gegeben, weil der Auschwitz-Erlaß als solcher schon einen Anhaltspunkt für das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen des mit der Klage verfolgten Entschädigungsanspruchs bildet. Der Berufungsrichter war demnach nicht gehindert, hier §83 Abs. 2 BErgG anzuwenden. Daß das Urteil auf einer unrichtigen Anwendung dieser Vorschrift beruht, ist nicht ersichtlich.

c)Schließlich meint die Revision, es fehlten Feststellungen über irgendwelche Änderungen in der Freiheitsentziehung der Klägerin, die auf den Auschwitz-Erlaß zurückzuführen seien. Das Berufungsgericht hebe im Gegenteil hervor, seit dem 1. März 1943 habe sich die Kriegslage so verschlechtert, und die Partisanentätigkeit habe so zugenommen, daß unmöglich unterstellt werden könne, man habe den Zigeunern in Polen noch Bewegungsfreiheit gelassen. Damit stelle das Berufungsgericht selbst fest, in erster Linie seien militärische Gründe für die Freiheitsentziehung maßgebend gewesen. Diese Feststellung schließt jedoch nicht aus, daß daneben auch rassenpolitische Gründe für die weitere Festhaltung der Klägerin und der anderen Zigeuner ausschlaggebend waren. Eine Maßnahme kann auf verschiedenen nebeneinanderbestehenden Gründen beruhen. Ob die verschiedenen Gründe gleichstark nebeneinanderbestehen oder ob der eine oder der andere ein Übergewicht für die getroffene Maßnahme gehabt hat, gehört dem Bereich der Tatsachenwürdigung an. Es ist nicht ersichtlich, daß §286 ZPO dadurch verletzt ist, wenn der Berufungsrichter auf Grund der Verhandlung zu dem Ergebnis gelangt ist, die Festhaltung der Zigeuner ab 1. März 1943 sei auch aus rassischen Gründen erfolgt, nämlich (S. 5/6 des Urteils), um sie zwecks Durchführung der rassenpolitischen Ziele des Nationalsozialismus bereitzuhalten. Dieser letztere Umstand genügt hier, um die Voraussetzungen des §1 Abs. 3 BErgG (jetzt: §2 BEG) zu erfüllen. Eine Gewaltmaßnahme ist auch dann aus Verfolgungsgründen getroffen, wenn solche Gründe wesentlich mitursächlich für sie gewesen sind. Das Gesetz verlangt nicht, daß die Verfolgungsmaßnahme ausschließlich auf den §1 a.a.O. angegebenen Gründen beruht. Wenn der Berufungsrichter für die bereits in der Gewalt der nationalsozialistischen Machthaber befindlichen Zigeuner feststellt, daß vom 1. März 1943 ab die Haft der Durchführung der rassischen Ausrottung dieser Zigeuner diente, so kann diese Feststellung aus Rechtsgründen nicht beanstandet werden. Auch für eine Anwendung des §9 Abs. 5 BEG ist kein Platz mehr.

4.Zu Unrecht rügt die Revision auch, der Berufungsrichter habe den Begriff der Festhaltung aus rassischen Gründen verkannt. Sie kann und hat dabei nicht in Abrede gestellt, daß die Klägerin nach dem 1. März 1943 in Polen unter Bedingungen gelebt hat, die den Tatbestand der Freiheitsentziehung im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes erfüllen. Die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsurteils rechtfertigen auch die vom Berufungsrichter gezogene Schlußfolgerung, diese Freiheitsentziehung beruhe auf rassischen Beweggründen. Daß diese Feststellungen Verfahrensrechtlich einwandfrei getroffen sind, ergibt sich aus dem oben Ausgeführten. Eine Verletzung materiellen Rechts ist nicht ersichtlich. Was die Revision hierzu vorträgt, liegt auf dem Gebiet der dem Berufungsrichter obliegenden Tatsachenwürdigung. Sie ist verfahrensrechtlich nicht zu beanstanden und daher in dem Revisionsrechtszug nicht nachprüfbar. Es kann der Revision nicht zugegeben werden, daß der Berufungsrichter zu dem Ergebnis, zu dem er gelangt ist, nur hätte kommen dürfen, wenn feststünde, daß Zigeuner aus Polen nach Auschwitz verbracht oder unfruchtbar gemacht worden seien und daß der Auschwitz-Erlaß in Polen zur Verteilung gekommen sei. Wenn es auch logisch möglich ist, daß die Machthaber des Dritten Reiches die übrigen Zigeuner einer anderen Behandlung hätten zuführen wollen als die bereits evakuierten, so steht deswegen die Feststellung des Berufungsurteils mit den Denkgesetzen nicht in Widerspruch. Die Würdigung, die das Berufungsgericht dem Auschwitz-Erlaß und der Festhaltung der Zigeuner in Polen nach dem 1. März 1943 angedeihen läßt, ist viel besser mit der nationalsozialistischen "Rassenpolitik" in diesen Jahren vereinbar, die nicht bloß auf Unterdrückung Fremdrassischer, sondern auf deren Ausrottung im gesamten Machtbereich des Dritten Reiches abzielte, als die bloß denkbare durch keine Tatsachen gestützte Möglichkeit, die nach Ansicht der Revision nicht auszuschließen sei. Bei der Ermittlung dessen, was sich wirklich zugetragen hat, darf aber nicht außer acht bleiben, daß gerade die Unterlagen für die Behandlung der Zigeuner in Polen infolge der Kriegsereignisse nur spärlich vorliegen. Gerade hier gilt, daß der Mangel an Beweisen nicht zum Nachteil der Verfolgten ausschlagen darf, ein Gedanke, der den Vorschriften des §83 Abs. 2 BErgG und jetzt des §176 Abs. 2 BEG zugrunde liegt.

Die Revision muß daher mit der sich aus den §§97 ZPO und 225 Abs. 1 BEG ergebenden Kostenfolge zurückgewiesen werden.