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Bundesgerichtshof

Entscheidung vom 25.03.1988, Az.: V ZR 1/87

Tatbestand

Die Beklagte steht aufgrund eines Beschlusses des Amtsgerichts K. vom 24. Juni 1984 unter vorläufiger Vormundschaft. Der Kläger wurde hierüber mit Schreiben des Vormundes vom gleichen Tag unterrichtet.

Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Vollstreckungsbescheid vom 20. Juli 1984 über 320 000 DM nebst vorgerichtlichen Kosten und Zinsen erwirkt, der der Beklagten persönlich am 8. August 1984 im Parteibetrieb durch Niederlegung zugestellt worden ist. In den Anträgen auf Erlaß des Mahn- und des Vollstreckungsbescheides sind Hinweise auf den vorläufigen Vormund der Beklagten nicht enthalten.

Mit einem am 14. September 1984 eingegangenen Schriftsatz hat die Beklagte, vertreten durch ihren vorläufigen Vormund, Einspruch gegen den Vollstreckungsbescheid eingelegt.

Das Landgericht hat den Vollstreckungsbescheid aufgehoben und die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Oberlandesgericht den Einspruch der Beklagten gegen den Vollstreckungsbescheid als unzulässig verworfen. Die Revision der Beklagten ist erfolglos geblieben.

Entscheidungsgründe

Mit Recht hat das Berufungsgericht den Einspruch der Beklagten vom 14. September 1984 gegen den ihr persönlich am 8. August 1984 zugestellten Vollstreckungsbescheid wegen Versäumung der zweiwöchigen Einspruchsfrist als unzulässig verworfen (§§ 700 Abs. 1, 339 Abs. 1, 341 Abs. 1 ZPO).

Die Zulässigkeit des Einspruchs hängt davon ab, ob die unter Verstoß gegen § 171 Abs. 1 ZPO erfolgte Zustellung des Vollstreckungsbescheids an die prozeßunfähige Beklagte (§ 52 ZPO, §§ 114, 106 BGB) selbst die zweiwöchige Einspruchsfrist (§§ 700 Abs. 1, 339 Abs. 1 ZPO) in Gang gesetzt hat, so daß diese Frist bei Einreichung der Einspruchsschrift bereits abgelaufen war.

1. Ob Rechtsmittel- und Einspruchsfristen mit Zustellung an Prozeßunfähige zu laufen beginnen, ist in der Rechtsprechung der Instanzgerichte und im Schrifttum umstritten.

a) Zum Teil wird die Auffassung vertreten, daß die unter Verletzung des § 171 Abs. 1 ZPO durchgeführte Zustellung an den Prozeßunfähigen die Einspruchs- oder Rechtsmittelfrist nicht in Gang setze (vgl. OLG Marienwerder SeuffArch 56 Nr. 231; OLG Naumburg OLGRspr 29, 71; LG Detmold NJW 1955, 1115 [LG Detmold 19.04.1955 - S 14/55]; LG Hamburg MDR 1966, 512 f. [LG Hamburg 31.12.1965 - 1 R 26/65]; LG Frankfurt NJW 1976, 757 f.; Rosenberg/Schwab, ZPO 14. Aufl. § 44 IV 6; Rosenberg JZ 1951, 43 f., ders. FamRZ 1958, 95 f.; Zöller/Stephan, ZPO 15. Aufl. § 171 Rdn. 2; Thomas/Putzo, ZPO 15. Aufl. § 171 a.E.; Niemeyer NJW 1976, 742 ff.; wohl auch Wieczorek, ZPO 2. Aufl. § 171 Anm. C II jedenfalls für den Fall, daß die Partei im Prozeß selbst nicht aufgetreten ist).

b) Das Reichsgericht und das Bundesverwaltungsgericht entnehmen demgegenüber dem Gebot der Rechtssicherheit und der Ausgestaltung der Nichtigkeitsklage wegen mangelhafter Vertretung (§§ 578 Abs. 1, 579 Abs. 1 Nr. 4, 586 Abs. 3 ZPO), daß die Zustellung von Urteilen und Versäumnisurteilen an die als prozeßfähig behandelte, tatsächlich aber prozeßunfähige Partei trotz Verstoßes gegen § 171 Abs. 1 ZPO die Rechtsmittel- bzw. Einspruchsfristen beginnen läßt (RGZ 121, 63, 64 f.; 162, 223, 225; BVerwG NJW 1970, 962 f.; vgl. auch RG WarnRspr 1917 Nr. 258 = JW 1917, 605 Nr. 16; zust. KG ZZP 55, 298; LG Paderborn NJW 1975, 1748 [LG Paderborn 22.05.1975 - 1a S 71/75] - betr. einen Vollstreckungsbefehl -; Stein/Jonas/Leipold, ZPO 20. Aufl. § 56 Rdn. 2; Zöller/Schneider, ZPO 15. Aufl. § 586 Rdn. 21; Baumbach/Hartmann, ZPO 46. Aufl. § 56 Anm. 1 C; Kunz MDR 1979, 723 f.).

c) Der Bundesgerichtshof hat bislang zu der Streitfrage ausdrücklich noch nicht Stellung genommen. Der Hinweis im Urteil vom 19. Juni 1970 (IV ZR 83/69, NJW 1970, 1680, 1681 li. Sp. oben), welches die Frage selbst ausdrücklich offen läßt, der Bundesgerichtshof habe im Urteil vom 27. November 1957, IV ZR 28/57, LM Nr. 3 zu § 52 ZPO = FamRZ 1958, 58, 59 li. Sp. unten b) im Sinne der dargestellten Rechtsprechung des Reichsgerichts entschieden, ist mißverständlich. Das erwähnte Urteil hatte nicht die Frage der Zustellung sondern nur der - vergleichbaren - Rechtsmittelrücknahme durch einen Prozeßunfähigen zum Gegenstand, deren Wirksamkeit bejaht wurde (vgl. dazu auch BVerwG NJW 1964, 1819 und BSG MDR 1970, 710 L).

2. Die der Rechtsprechung des Reichsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zugrundeliegenden Erwägungen rechtfertigen entgegen der Ansicht der Revision auch die Anwendung auf den Fall der Zustellung eines Vollstreckungsbescheids an eine - aus dem zuzustellenden Titel nicht erkennbar - prozeßunfähige Partei.

a) Die angeführte Rechtsprechung trägt dem Bedürfnis Rechnung, im Interesse von Rechtsfrieden und Rechtssicherheit Prozesse möglichst bald durch Eintritt der formellen Rechtskraft der ergangenen Entscheidung zu beenden. Damit wäre es nicht zu vereinbaren, wenn der formelle Akt der Zustellung in seiner Wirkung, die Rechtsbehelfsfrist in Lauf zu setzen, durch Mängel, die bei der Zustellung nicht erkennbar sind und erst in einem längeren Verfahren geprüft werden müßten, in Frage gestellt würde. Dem entgegenzuwirken ist bei Vollstreckungsbescheiden noch dringlicher geboten als bei Urteilen, die gemäß § 516 ZPO auch ohne Zustellung rechtskräftig werden. Der Schutz des prozeßunfähigen Zustellungsempfängers kann demgegenüber zurücktreten (entgegen Niemeyer NJW 1976, 742, 743). Dieser Zustellungsempfänger hat auch gegenüber einem Vollstreckungsbescheid die Möglichkeit, binnen einer Frist von einem Monat seit nachträglicher Zustellung an seinen gesetzlichen Vertreter die Nichtigkeitsklage zu erheben, weil er im Mahnverfahren nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten war (§§ 579 Abs. 1 Nr. 4, 584 Abs. 2, 586 Abs. 3 ZPO).

b) Auch der verfassungsrechtliche Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) gebietet es nicht, der Zustellung an den Prozeßunfähigen jede Wirkung zu versagen. Jedenfalls wird im Verfahren über die Nichtigkeitsklage das etwa vorher verweigerte rechtliche Gehör nachträglich gewährt (vgl. BGHZ 84, 24, 29).

c) Zu Unrecht meint die Revision, die bisherige höchstrichterliche Rechtsprechung beruhe darauf, daß das Gericht stets die Möglichkeit gehabt habe, in einer mündlichen Verhandlung die Prozeßfähigkeit gemäß § 56 ZPO von Amts wegen zu beurteilen. Die Revision erkennt selbst, daß das Prozeßgericht auch im Urteilsverfahren, insbesondere bei der Vertretung der Parteien durch Anwälte, nur eingeschränkt die Prozeßfähigkeit einer Partei aufgrund eigener Feststellungen prüfen kann. Bei Säumnis der anwaltlich nicht vertretenen Partei im - einzigen - Verhandlungstermin, auf den das Versäumnisurteil ergeht, wie im Fall RGZ 121, 63 ff., bleibt erst recht keine Prüfungsmöglichkeit. Der allen höchstrichterlichen Entscheidungen gemeinsame und tragende Gesichtspunkt ist dementsprechend auch nicht die Prüfungsmöglichkeit des Gerichts gemäß § 56 ZPO, sondern - wie bereits ausgeführt - die Rechtssicherheit und der speziell für diese Fälle gegebene Rechtsbehelf der Nichtigkeitsklage wegen mangelhafter Vertretung (§§ 578 Abs. 1, 579 Abs. 1 Nr. 4, 586 Abs. 3 ZPO). Dieses Argument trifft aber gleichermaßen auf Urteile, Versäumnisurteile und auf letzteren gleichstehende (vgl. § 700 Abs. 1 ZPO) Vollstreckungsbescheide zu.

3. Entgegen der Auffassung der Revision setzt die Zustellung an die Beklagte die Einspruchsfrist auch dann in Gang, wenn der Kläger die Prozeßunfähigkeit kannte. Der Eintritt der Rechtskraft hängt, worauf das Berufungsgericht zutreffend hinweist, nicht von subjektiven Momenten ab, sondern richtet sich allein nach objektiven, nachprüfbaren Tatsachen aus dem Verfahren, in dem die Entscheidung ergangen ist. Ebensowenig kann eine Berufung auf § 826 BGB den Eintritt der Rechtskraft verhindern.