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Bundesgerichtshof

Entscheidung vom 21.02.1978, Az.: VI ZR 202/76

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 4. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Braunschweig vom 17. August 1976 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als es der Berufung der Beklagten gegen das Teilurteil des Landgerichts Braunschweig vom 13. November 1975 stattgegeben hat.

Im übrigen wird die Revision zurückgewiesen.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

Am 20. Juni 1973 erlitt die damals fast 13 Jahre alte Klägerin einen schweren Unfall in dem von der Beklagten betriebenen Schwimmbad der Stadt Wol. Sie hatte das Bad in Begleitung ihres Vaters und ihrer 6 Jahre jüngeren Schwester aufgesucht. Neben der Schwimmhalle befindet sich ein Freigelände. Der Zugang von draußen nach drinnen führt im "Einbahnverkehr" durch eine sog. Zwangsdusche, wodurch eine Verschmutzung der Schwimmhalle verhindert werden soll. Die Tür zur Schwimmhalle ist normalerweise nur vom Duschraum aus zu öffnen; am Unfalltag funktionierte der Selbstschließer jedoch nicht einwandfrei, so daß der Duschraum auch vom Schwimmbad aus betreten werden konnte. In ihm befindet sich eine Kleiderrutsche, die dazu dient, Kleider und andere Gegenstände, die die Besucher in das Freigelände mitgenommen haben, trocken durch die Zwangsdusche zu bringen. Die Kleiderrutsche ist seitlich durch eine Drahtglaswand von der Dusche abgeschirmt. Sie bestand damals aus zwei 45 cm breiten, 6 mm dicken Drahtspiegelglasplatten, die in einem stumpfen Winkel von etwa 135 Grad aufeinander stießen; die schräge Aufgabeplatte beginnt 1,10 m über dem Boden und hat eine Länge von 0,92 m; die waagerechte Abnahmeplatte liegt 0,60 m über dem Boden und ist 0,79 m lang; die Drahtglasplatten waren jeweils an drei Seiten in Metallrahmen gefaßt; an der Stoßkante waren sie nicht eingefaßt und auch weder verklebt noch mit einer Gehrung zusammengefügt. Die Abnahmeplatte war wenige Tage vor dem Unfall wegen eines kleinen Risses erneuert worden. Nach dem Unfall wurden die Drahtspiegelglasplatten durch Edelstahlplatten ersetzt. Zwei Warnschilder mit der Aufschrift "Kleiderrutsche nicht begehen" wurden auch erst nach dem Unfall angebracht.

Der Unfall ereignete sich folgendermaßen: während sich der Vater der Klägerin in der Schwimmhalle aufhielt, ging die Klägerin mit ihrer Schwester von dort in den Duschraum. Zunächst kletterte die kleine Schwester auf die Abnahmeplatte der Kleiderrutsche, dann auf die Aufgabeplatte und rutschte herunter. Danach kletterte auch die Klägerin von derselben Seite aus auf die Kleiderrutsche. Sie brach auf nicht näher geklärte Weise auf der Abnahmeplatte (mit etwa 2/3 der Platte) durch, wobei beide Beine zwischen Kniekehle und Oberschenkel zu 75 % des Beinquerschnitts durchgetrennt wurden.

Die Klägerin behauptet, es müsse mit einem erheblichen Dauerschaden gerechnet werden. Sie nimmt die Beklagte auf Feststellung ihrer Schadensersatzpflicht und auf Zahlung eines Schmerzensgeldes in Anspruch.

Das Landgericht hat durch Teilurteil dem Feststellungsanspruch zur Hälfte stattgegeben, den weitergehenden Feststellungsanspruch abgewiesen und als ersten Teil eines angemessenen Schmerzensgeldes einen Betrag von 2.000 DM nebst Zinsen zuerkannt. Das Oberlandesgericht hat unter Zurückweisung der Berufung der Klägerin, mit der diese den abgewiesenen Feststellungsanspruch weiterverfolgte, auf die Berufung der Beklagten die Klage, soweit das Landgericht die Klageansprüche zuerkannt hatte, abgewiesen.

Mit der (zugelassenen) Revision begehrt die Klägerin, dem Feststellungsantrag in vollem Umfang stattzugeben und die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

I.Das Berufungsgericht hält Ansprüche der Klägerin aus §§ 823, 31 BGB oder aus Vertrag nicht für gegeben. Es hält den damaligen Zustand der Kleiderrutsche für objektiv verkehrssicher und führt aus: Von der Rutsche seien bei bestimmungsgemäßem Gebrauch keine Gefahren ausgegangen, durch die Personen hätten zu Schaden kommen können; selbst bei einem Zerbrechen der Drahtglasscheiben seien Benutzer hinreichend geschützt gewesen, da die Scheibenkanten, mit denen sie beim Auflegen oder Abnehmen der Sachen in Berührung kommen konnten, durch Metallrahmen eingefaßt waren; deshalb sei es auch unerheblich, daß die Stoßkanten der Glasplatten nicht auf Gehrung geschliffen und verklebt gewesen seien. Mit einer mißbräuchlichen Benutzung habe die Beklagte aber nicht zu rechnen brauchen; der Unfall sei nicht im Rahmen eines Geschehens eingetreten, das in Badeanstalten, in denen an sich mit dem Umhertollen von Kindern zu rechnen sei, erfahrungsgemäß vorkomme; vielmehr habe die Klägerin die Kleiderrutsche entgegen deren Zweckbestimmung mutwillig betreten. Die Kleiderrutsche, die nach dem Ort der Anlage und ihrer Ausgestaltung auch für Kinder nicht mit einer "Spielrutsche" zu verwechseln gewesen sei, habe nicht so konstruiert zu sein brauchen, daß auch eine mißbräuchliche Benutzung ausgeschlossen gewesen sei.

II.Die Revision fuhrt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils, soweit das Berufungsgericht der Berufung der Beklagten stattgegeben hat.

Ob der revisionsmäßig als unfallursächlich zu behandelnde Zustand der Kleiderrutsche objektiv verkehrswidrig war, ist im wesentlichen eine anhand der allgemeinen Lebenserfahrung zu beurteilende Rechtsfrage, die das Berufungsgericht, wie sich vor allem aus der Begründung der Revisionszulassung ergibt, nicht richtig beantwortet hat.

Die Anlagen einer Badeanstalt müssen so beschaffen sein, daß die Benutzer vor vermeidbaren Gefahren bewahrt bleiben (vgl. für Kinderspielplatz Urt. v. 21. April 1977 - III ZR 200/74 = VersR 1977, 817). In der Tat kann die Verkehrssicherungspflicht sogar schon gegenüber Erwachsenen (Senatsurteil vom 19. Januar 1965 - VI ZR 235/63 = VersR 1965, 515), insbesondere aber bei Kindern auch die Vorbeugung gegenüber unbefugtem und mißbräuchlichem Verhalten umfassen (Senatsurteile vom 5. Mai 1964 - VI ZR 72/63 = VersR 1964, 825; 16. Juni 1970 - VI ZR 23/69 = FamRZ 1970, 553 m.w.Nachw.; 22. Oktober 1974 - VI ZR 149/73 = VersR 1975, 88 und VI ZR 142/73 = VersR 1975, 87). Dies gilt insbesondere dann, wenn Kinder wie hier in dem Duschraum sich ohne Aufsicht aufhalten können. Zwar können keine Vorkehrungen gegen jede denkbare, nur entfernt liegende Möglichkeit einer Gefährdung verlangt werden (Senatsurt. v. 12. Februar 1963 - VI ZR 145/62 = VersR 1963, 532). Indessen bestand hier eine offenbare Gefahrenquelle, der zu begegnen war.

Zwar mag der Feststellung des Berufungsgerichts gefolgt werden, daß die Kleiderrutsche nach ihrer Anlage und Beschaffenheit selbst für Kinder nicht mit einer Spielrutsche zu verwechseln war. Es kann deshalb dahinstehen, ob die Einlassung der Klägerin über einen solchen Irrtum den Glauben der Tatrichter beanspruchen konnte. Jedoch stellte die Abnahmeplatte der Kleiderrutsche jedenfalls für Kinder geradezu eine gewisse Aufforderung zum Niedersetzen oder Ersteigen von der Abnahmeseite her dar; sie befand sich nur 60 cm über dem Fußboden, also in einer Höhe, die auch für Kinder leicht zu überwinden war. Ein solches Verhalten lag auch nichtdeshalb ferne, weil die Abnahmeseite der Rutsche bestimmungsgemäß nur durch die Zwangsdusche erreicht werden sollte, ganz abgesehen davon, daß die planwidrige Zugänglichkeit von der Halle her offenbar längere Zeit gewährt hatte. Denn in einem Schwimmbad läßt sich entgegen der Meinung des Berufungsgerichts kein Spielbereich abgrenzen, innerhalb dessen allein mit übermütigem Verhalten von Kindern gerechnet werden müßte. Auch wäre gerade das vorherige Passieren der Zwangsdusche nach der Lebenserfahrung nicht geeignet gewesen, ein besonders gelassenes Verhalten der Kinder im Bereich der Abnahmeseite der Rutsche zu gewährleisten, gleich ob sie sich dieser zur Abnahme aufgegebener Gegenstände oder auch nur aus spielerischer Neugier näherten.

Angesichts dessen mußte die Rutsche so beschaffen sein, daß sie auch von größeren Kindern gefahrlos betreten werden konnte, selbst "mit Schwung". Die gleiche Anforderung an ihre Festigkeit mußte sich aus der Erwägung ergeben, daß Erwachsene bei bestimmungsgemäßem Gebrauch der Abnahmefläche etwa infolge Ausgleitens im nassen Milieu das Gleichgewicht verloren. Es galt also bei der Rutsche in besonderem Maße die Sicherheitsanforderungen zu beachten, die allgemein an die Bruchfestigkeit von waagerechten Glasflächen zu stellen sind, wenn die Belastung durch Menschen nicht ganz fern liegt.

Die beim Unfall zerbrochene Abnahmeplatte genügte diesen Anforderungen nicht, wenn sich auch mit ihr seit langen Jahren kein Unfall ereignet hatte. Sie bestand nur aus Drahtspiegelglas, was - da dieses nach dem Urteil des Sachverständigen nicht den Anforderungen eines "Einscheiben- oder Verbundsicherheitsglases" entspricht - ohnehin schon gefährlich war. Glas als Bauelement sollte sogar an senkreten Flächen (BGH Urt. v. 13. April 1967 - III ZR 2/65 = VersR 1967, 714) in Räumen, in denen Kinder sich aufhalten, jedenfalls in dem Bereich, in dem sich der Spiel- oder Bewegungstrieb der Kinder auswirken kann, tunlichst vermieden werden. Im Streitfall könnten für die Verwendung dieses Materials allenfalls ästhetische Gründe sprechen, die hinter Sicherheitsanforderungen ggf. zurücktreten müssen. Die Kleiderrutsche konnte nach dem Unfall ohne weiteres aus bruchfestem Material erstellt werden. Diese Art der Gestaltung war von vornherein möglich und zumutbar (vgl. BGH Urt. v. 13. April 1967 a.a.O.; v. 21. April 1977 - III ZR 200/74 = VersR 1977, 817). Hier kommt noch hinzu, daß ohne Not auf eine Sicherung der hinteren Kante der Abnahmeplatte verzichtet worden war. Dies war nicht dadurch gerechtfertigt, weil, wie das Berufungsgericht an sich zutreffend meint, Schnittverletzungen eben durch diese Kante infolge ihrer Lage fern lagen. Die Sicherung jedenfalls durch ein Metallprofil hätte auch die Tragfähigkeit der Platte im hinteren Bereich wesentlich erhöht. Da der Abbruch von der hinteren Seite her erfolgt ist, wird davon ausgegangen werden müssen, daß sich auch dieses Versäumnis bei dem Unfall ursächlich ausgewirkt hat.

Insgesamt entsprach die Gestaltung der Kleiderrutsche somit objektiv nicht den zu stellenden Anforderungen. Da das Berufungsgericht insoweit den Umfang der Verkehrssicherungspflicht verkannt hat, war das angefochtene Urteil aufzuheben, soweit es eine Haftung der Beklagten verneint.

III.Das Berufungsgericht wird nunmehr nach Zurückverweisung von der objektiven Verkehrswidrigkeit der Rutsche auszugehen und die Prüfung nachzuholen haben, ob dieser Zustand der Beklagten deliktsrechtlich oder doch vertragsrechtlich zuzurechnen ist. Dabei werden allgemein die in diesem Bereich sehr strengen Sorgfaltsanforderungen der Rechtsprechung zu beachten sein. Indessen dürfte die von der Revision befürwortete Anwendung der beweiserleichternden Vorschrift des § 836 BGB eher fernliegen, weil die "bewegend wirkende Kraft" (Senatsurteil vom 30. Mai 1961 - VI ZR 310/56 - LM § 836 BGB Nr. 12 = VersR 1961, 803), die die Verletzung verursacht hat, im wesentlichen von einer sicher mißbräuchlichen Benutzung ausgegangen ist. Andererseits mag aber, da der Schwimmbadbenutzungs-Vertrag auch mietrechtliche Elemente enthält, hinsichtlich des rein vertraglichen Anspruchs auch die strenge Haftungsvorschrift des § 538 BGB auf ihre Anwendbarkeit im vorliegenden Fall zu prüfen sein.

IV.Die Revision der Klägerin erweist sich indessen insoweit schon jetzt als unbegründet, als das Berufungsgericht deren eigene Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil zurückgewiesen hat. Daß das Betreten der nicht mit einem Spielgerät verwechselbaren Glasrutsche nicht nur töricht, sondern auch sehr gefährlich war, hätte zwar wohl einem kleineren Kind im Spieleifer nicht bewußt werden müssen, war aber für eine fast Dreizehnjährige unübersehbar. Daher ist mindestens das der Klägerin vom Landgericht zur Last gelegte hälftige Mitverschulden angemessen, wie das Revisionsgericht aufgrund der insoweit keiner Ergänzung bedürftigen tatsächlichen Feststellungen selbst ermessen kann.