Bundesverfassungsgericht
Entscheidung vom 26.06.2014, Az.: 1 BvR 2135/09
Tenor
Das Urteil des Amtsgerichts München vom 9. April 2009 - 1125 OWi 111 Js 10211/09 - verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 8 Absatz 1 des Grundgesetzes.
Die Entscheidung wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht München zurückverwiesen. Damit wird der Beschluss des Oberlandesgerichts Bamberg vom 5. August 2009 - 2 Ss OWi 811/2009 - gegenstandslos.
Der Freistaat Bayern hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen zu erstatten.Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 25.000 € (in Worten: fünfundzwanzigtausend Euro) festgesetzt.
Entscheidungsgründe
I.
Mit ihrer Verfassungsbeschwerde wendet sich die Beschwerdeführerin gegen die Verurteilung zu einer Geldbuße wegen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz.
1. Die Beschwerdeführerin nahm am 1. Mai 2008 an einer Versammlung des Deutschen Gewerkschaftsbundes in München mit dem Thema '01. Mai. Tag der Arbeit' teil. Angemeldet waren eine stationäre Auftaktkundgebung, ein Versammlungszug und eine stationäre Abschlusskundgebung. Für die Versammlung hatte das Kreisverwaltungsreferat München als zuständige Versammlungsbehörde mit Bescheid vom 28. April 2008 unter dem Unterpunkt 'Kundgebungsmittel / Versammlungshilfsmittel' unter anderem die Auflage erlassen, dass Lautsprecher und Megaphone nur für Ansprachen und Darbietungen, die im Zusammenhang mit dem Versammlungsthema stehen, sowie für Ordnungsdurchsagen verwendet werden dürfen. Während des Versammlungszuges benutzte die Beschwerdeführerin an zwei Orten einen Lautsprecher, welcher auf einem Handwagen mitgeführt wurde, für folgende Durchsagen: 'Bullen raus aus der Versammlung!' und 'Zivile Bullen raus aus der Versammlung - und zwar sofort!'.
2. Gegen die Beschwerdeführerin wurde ein Bußgeldverfahren eingeleitet. Das Amtsgericht verurteilte die Beschwerdeführerin mit angegriffenem Urteil wegen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz (Nichtbeachtung beschränkender Auflagen) gemäß § 29 Abs. 2, Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. § 15 Abs. 1 VersG zu einer Geldbuße von 250 Euro.
Hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der Auflage bestünden keine Bedenken. Zwar sei ein gänzliches Verbot des Einsatzes von Lautsprecheranlagen bei einer Versammlung nicht zulässig, die Versammlungsbehörde könne jedoch insoweit Beschränkungen anordnen, als beispielsweise die Sicherheit des Straßenverkehrs oder der Schutz unbeteiligter Dritter vor schädlichen Umwelteinwirkungen dies erforderten und die Verwendung von Lautsprechern nicht funktional zur Verwirklichung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit notwendig seien. Der Zweck einer kollektiven Meinungsbildung und -kundgabe entfalle, wenn der Einsatz elektronischer Verstärker allein oder hauptsächlich anderen Zwecken als der Meinungskundgabe zu versammlungsbezogenen Themen diene. In diesem Falle sei der Einsatz des Verstärkers nicht anders zu bewerten, als wenn eine Einzelperson oder die Veranstalter eines Informationsstandes sich eines Verstärkers bedienten, um ihr Anliegen zu verbreiten. Die Beschränkung von Lautsprecherdurchsagen auf versammlungsthemenbezogene Meinungsäußerungen und auf Ordnungsdurchsagen sei vor diesem Hintergrund im Lichte der Versammlungsfreiheit nicht zu beanstanden. Die Beschränkung auf Ordnungsdurchsagen sei auch nicht wegen mangelnder Bestimmtheit unzulässig. Es handele sich dabei zwar um einen unbestimmten Rechtsbegriff, bei vernünftiger Betrachtung sei jedoch offensichtlich, was damit gemeint sei: Durchsagen, welche Störungen des Versammlungszuges von außen oder innen vermeiden sollen.
Vorliegend habe die Beschwerdeführerin mit ihrer Aussage aber weder eine eventuelle Störung der Versammlung beseitigen wollen noch habe sie eine versammlungsthemenbezogene Aussage getätigt. Sie habe vielmehr allein ihre Meinung und ihr Missfallen zur beziehungsweise über die Teilnahme von Zivilpolizisten an dem Zug Ausdruck verleihen wollen und insoweit eher zur Hervorrufung von Störungen beigetragen als solche verhindern wollen. Auch eine weitergehende Verknüpfung mit einem besonderen Thema oder mit dem spezifischen Versammlungsthema sei bei der getätigten Aussage nicht erkennbar. Insbesondere werde aus der Art der getätigten Äußerung deutlich, dass die Beschwerdeführerin durch ihre Äußerung auch keinen politischen Diskurs und Meinungsaustausch über ein zu viel an Polizeipräsenz bei bayerischen Versammlungen beabsichtigt habe. Der Beschwerdeführerin sei die gegenständliche Auflage auch bekannt gewesen und bewusst gewesen, dass die beiden von ihr getroffenen Aussagen weder in direktem Zusammenhang mit dem Versammlungsthema standen noch einen geordneten Versammlungsablauf bezweckten.
3. Das Oberlandesgericht verwarf den Antrag der Beschwerdeführerin, gemäß § 80 Abs. 1 OWiG die Rechtsbeschwerde zuzulassen, als unbegründet.
4. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin insbesondere eine Verletzung in ihrem Grundrecht der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG.
5. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, sowie das Bayerische Staatsministerium des Innern hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. In einer dem Bundesverfassungsgericht zur Kenntnis gegebenen Stellungnahme der Landeshauptstadt München gegenüber dem Bayerischen Staatsministerium des Innern hat die Landeshauptstadt München die Auffassung vertreten, dass die angegriffenen Entscheidungen den verfassungsrechtlichen Anforderungen entsprechen. Insbesondere fielen die fraglichen Äußerungen bereits nicht in den Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG, jedenfalls wäre der Eingriff aber gerechtfertigt. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz sowie das Bayerische Staatsministerium des Innern haben von einer weiteren Stellungnahme abgesehen. Die Akten des Ausgangsverfahrens haben dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen.
II.
Die Verfassungsbeschwerde wird zur Entscheidung angenommen (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Soweit die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihrer Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG rügt, liegen die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung vor (§ 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Die maßgebenden verfassungsrechtlichen Fragen zum Schutz der Versammlungsfreiheit sind geklärt (vgl. BVerfGE 69, 315 <342 ff.>; 84, 203 <209 ff.>; 87, 399 <406 ff.>; 104, 92 <103 f.>). Danach ist die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet.
1. Das angegriffene Urteil des Amtsgerichts verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG.
a) Der Schutzbereich der Versammlungsfreiheit ist eröffnet. Die Beschwerdeführerin war unstreitig Teilnehmerin einer auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Kundgebung und damit einer Versammlung im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 104, 92 <104>). Vom Schutzbereich der Versammlungsfreiheit grundsätzlich umfasst war damit auch die Verwendung von Lautsprechern oder Megaphonen als Hilfsmittel (vgl. BVerfGK 11, 102 <108>). Die als bußgeldbewehrt erachteten Lautsprecherdurchsagen standen auch inhaltlich in hinreichendem Zusammenhang mit der durch Art. 8 Abs. 1 GG geschützten Durchführung der Versammlung. Mögen sie auch keinen spezifischen Bezug zum Versammlungsthema aufgewiesen haben und nicht auf die Einhaltung der Ordnung gerichtet gewesen sein, so gaben sie jedenfalls das versammlungsbezogene Anliegen kund, dass sich in dem auf den Willensbildungsprozess gerichteten Aufzug selbst nur solche Personen befinden sollen, die am Willensbildungsprozess auch teilnehmen, nicht aber auch am Meinungsbildungsprozess unbeteiligte Polizisten, die als solche nicht erkennbar sind. In ihrer idealtypischen Ausformung sind Demonstrationen die körperliche Sichtbarmachung von gemeinsamen Überzeugungen (vgl. BVerfGE 69, 315 <345>). Wer an einer solchen Versammlung teilnimmt, ist grundsätzlich auch dazu berechtigt, während der Versammlung dafür einzutreten, dass nur die das Anliegen der Versammlung unterstützenden Personen an ihr teilnehmen und Polizisten sich außerhalb des Aufzugs bewegen. Insoweit ist die entsprechende Lautsprecheraussage nicht - wie das Amtsgericht annimmt - dem Schutzbereich der Versammlungsfreiheit entzogen.
b) Durch die Sanktionierung der Lautsprecherdurchsagen mit einem Bußgeld greift die amtsgerichtliche Entscheidung in diesen Schutzbereich ein. Dieser Eingriff ist auf der Grundlage der gerichtlichen Feststellungen nicht gerechtfertigt.
(1) Zwar ist die Versammlungsfreiheit nicht unbeschränkt gewährleistet. Bei Versammlungen unter freiem Himmel sind zur Wahrung kollidierender Interessen Dritter Eingriffe in das Grundrecht gemäß Art. 8 Abs. 2 GG durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes zulässig (vgl. BVerfGE 87, 399 <406>). Es handelt sich bei der zur Anwendung gelangten Bußgeldvorschrift des § 29 Abs. 2, Abs. 1 Nr. 3 VersG um ein solches Gesetz, dessen Auslegung und Anwendung grundsätzlich Sache der Strafgerichte ist (vgl. BVerfGK 10, 493 <495>). Allerdings haben die staatlichen Organe und damit auch die Strafgerichte die grundrechtsbeschränkenden Gesetze stets im Lichte der grundlegenden Bedeutung von Art. 8 Abs. 1 GG auszulegen und sich bei Maßnahmen auf das zu beschränken, was zum Schutze gleichwertiger anderer Rechtsgüter notwendig ist (vgl. BVerfGE 69, 315 <349>; 87, 399 <407>).
(2) Diesem Maßstab wird die amtsgerichtliche Verurteilung der Beschwerdeführerin zu einem Bußgeld nicht gerecht.
Indem die amtsgerichtliche Entscheidung die Verurteilung der Beschwerdeführerin zu einer Geldbuße in der Sache allein darauf stützte, dass sie die Lautsprecheranlage zu einem anderen Zweck als zu einer im engen Sinne themenbezogenen Durchsage oder Ordnungsmaßnahme nutzte, verkennt sie den Schutzgehalt des Art. 8 Abs. 1 GG, der - wie dargelegt - jedenfalls grundsätzlich auch Äußerungen zu anderen versammlungsbezogenen Fragen erlaubt. Insoweit konnte sich das Gericht auch nicht uneingeschränkt auf die entsprechende Auflage berufen. Vielmehr durfte es die Auflage nur dann als verfassungsgemäß ansehen, wenn es sie einer Auslegung für zugänglich hielt, nach der andere als strikt themenbezogene Äußerungen mit Versammlungsbezug von ihr nicht ausgeschlossen sind. An einer solchen Berücksichtigung des Schutzgehaltes der Versammlungsfreiheit fehlt es indes. Vielmehr belegt die angegriffene Entscheidung die in Frage stehenden versammlungsbezogenen Äußerungen unabhängig von jeder Störung mit einer Geldbuße. Für eine Störung durch den Gebrauch der Lautsprecheranlage im konkreten Fall ist weder etwas dargetan noch ist sie sonst ersichtlich. Die Lautsprecherdurchsagen der Beschwerdeführerin waren erkennbar nicht geeignet, mehr als allenfalls unerhebliche Unruhe innerhalb der Versammlung zu stiften. Der bloße Aufruf 'Zivile Bullen raus aus der Versammlung - und zwar sofort!' mag bei lebensnaher Betrachtung kurzfristige Irritationen von Versammlungsteilnehmern hervorrufen, war aber ersichtlich nicht zur Störung des ordnungsgemäßen Verlaufs der Versammlung geeignet. Insbesondere wurden Zivilpolizisten nicht kon-kret und in denunzierender Weise benannt und so etwa in die Gefahr gewalttätiger Übergriffe aus der Versammlung gebracht. Auch eine mögliche Beeinträchtigung der Gesundheit von Dritten durch übermäßigen Lärm erscheint durch die bloß kurzzeitige zweimalige Benutzung des Lautsprechers ausgeschlossen. Insgesamt ist damit nicht erkennbar, dass Gefährdungen vorlagen, die die Verurteilung der Beschwerdeführerin zu einem Bußgeld rechtfertigten.
2. Das angegriffene Urteil des Amtsgerichts beruht auch auf dem aufgezeigten Grundrechtsverstoß. Es ist nicht auszuschließen, dass das Amtsgericht bei einer erneuten Befassung unter Beachtung der grundrechtlichen Anforderungen des Art. 8 Abs. 1 GG zu einem anderen Ergebnis kommen wird. Das angegriffene Urteil ist daher aufzuheben, die Sache ist an das Amtsgericht zur erneuten Entscheidung zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2 BVerfGG). Der Beschluss des Oberlandesgerichts Bamberg über die Nichtzulassung der Rechtsbeschwerde vom 5. August 2009 ist damit gegenstandslos.
3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).