Bundesverfassungsgericht
Entscheidung vom 11.06.1991, Az.: 1 BVR 239/90
Entscheidungsgründe
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, ob ein entmündigter Volljähriger bei Abschluà eines Mietvertrages über Wohnraum seine Entmündigung offenbaren muÃ.
I.1. Der seit 1963 wegen Geistesschwäche entmündigte Beschwerdeführer schloà mit den Klägern des Ausgangsverfahrens einen Wohnungsmietvertrag ab, der als Mieter ihn selbst mit dem Zusatz "vertreten durch Kath. Jugendfürsorge Regensburg" - seinen Vormund - nennt und sowohl seine eigene Unterschrift als auch die eines Vertreters des Vormundes mit dessen Stempel trägt. Die Kläger kündigten den Mietvertrag, weil die Entmündigung und die Stellung des Fürsorgevereins als Vormund bei Vertragsabschluà verschwiegen worden seien. Auch das spätere Verhalten des Beschwerdeführers mache die Fortsetzung des Mietverhältnisses mit ihm unzumutbar. Wegen des daneben geltend gemachten Eigenbedarfs verurteilte das Amtsgericht ihn zur Räumung.
2. Mit dem angegriffenen Urteil wies das Landgericht die Berufung des Beschwerdeführers zurück. Zwar bestehe kein Eigenbedarf; die Kläger seien jedoch arglistig getäuscht worden und hätten deshalb ein berechtigtes Interesse an der Vertragsbeendigung (§ 564 b Abs. 1 BGB). Der Vormund des Beschwerdeführers habe die Entmündigung auch auf Frage nach seiner eigenen Rolle bewuÃt verschwiegen. Die Kläger hätten ein schutzwürdiges Interesse an deren Offenlegung gehabt; denn gegenüber einem geschäftsunfähigen Mieter seien verschuldensabhängige Schadensersatzansprüche nur schwer oder gar nicht durchsetzbar. Zwar schlieÃe die Entmündigung als solche die Verantwortlichkeit nicht aus, da eine dem § 104 Nr. 3 BGB entsprechende Bestimmung fehle. Die Entmündigung könne aber eine Vermutung für die Anwendbarkeit der §§ 827 Satz 1, 276 Abs. 1 Satz 3 BGB begründen. Auch die Kündigungsmöglichkeiten seien erheblich eingeschränkt, soweit sie ein schuldhaftes Verhalten voraussetzten.
Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Offenbarungspflicht auf Frage des Vertragspartners bestünden nicht, insbesondere nicht aufgrund der Entscheidung des Bundesverfassungsgericht vom 9. März 1988 (BVerfGE 78, 77), die nur die öffentliche Bekanntmachung einer Entmündigung für unvereinbar mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht erklärt habe.
3. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer hauptsächlich die Verletzung seines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG), dessen Bedeutung und Tragweite das Landgericht verkannt habe. Es erwähne die einschlägige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zwar kurz, verkenne aber aufgrund eines unzutreffenden Umkehrschlusses, daà der Schutzbereich dieses Grundrechts auch berührt sei, wenn durch ein zivilgerichtliches Urteil Folgen an die fehlende Preisgabe der Entmündigung geknüpft würden. Infolgedessen habe es sein Interesse an einer Geheimhaltung der Entmündigung nicht gewürdigt und die Interessen des Vermieters einseitig in den Vordergrund gestellt.
4. Nach Auffassung des Bundesministers der Justiz hat das Landgericht verkannt, daà und in welcher Weise Grundrechte die Auslegung und Anwendung zivilrechtlicher Normen beeinflussen. Deshalb fehle die verfassungsrechtlich gebotene Abwägung zwischen den grundrechtlich geschützten Interessen beider Vertragspartner, die hier zu dem Ergebnis hätte führen müssen, daà die Belange des Beschwerdeführers überwögen.
Das Bayerische Staatsministerium der Justiz meint, das Landgericht habe die Ausstrahlungswirkung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung zutreffend erkannt und sich auch mit der genannten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und ihrer Bedeutung für den vorliegenden Sachverhalt auseinandergesetzt. Nach der gebotenen Interessenabwägung könne dem Vermieter nicht von vornherein das Recht abgesprochen werden, sich über seinen zukünftigen Mieter zu informieren.
Die Kläger verteidigen das angegriffene Urteil.
II.Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Das angegriffene Urteil verletzt das durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG gewährleistete allgemeine Persönlichkeitsrecht des Beschwerdeführers.
1. Dieses Recht umfaÃt die Befugnis des Einzelnen, über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten, zu denen auch Akt und Status der Entmündigung gehören, selbst zu bestimmen (Recht auf informationelle Selbstbestimmung, vgl. BVerfGE 65, 1 (41 f.);  78, 77 (84) [BVerfG 08.03.1988 - 1 BvR 1092/84]).
Geschützt ist das so gewährleistete allgemeine Persönlichkeitsrecht nicht nur vor direkten staatlichen Eingriffen. Es entfaltet als objektive Norm seinen Rechtsgehalt auch im Privatrecht und strahlt in dieser Eigenschaft auf die Auslegung und Anwendung privatrechtlicher Vorschriften aus. Der Richter hat kraft Verfassungsgebots zu prüfen, ob von der Anwendung zivilrechtlicher Vorschriften im Einzelfall Grundrechte berührt werden. Trifft das zu, dann hat er diese Vorschriften im Lichte der Grundrechte auszulegen und anzuwenden (vgl. BVerfGE 7, 198 (206) [BVerfG 15.01.1958 - 1 BvR 400/51];  81, 40 (52) [BVerfG 03.10.1989 - 1 BvR 558/89]). Verfehlt der Richter diese MaÃstäbe und beruht sein Urteil auf der AuÃerachtlassung dieses verfassungsrechtlichen Einflusses auf das Privatrecht, so verstöÃt er nicht nur gegen objektives Verfassungsrecht, indem er den Gehalt der Grundrechtsnorm (als objektiver Norm) verkennt, er verletzt vielmehr als Träger öffentlicher Gewalt durch sein Urteil das Grundrecht des Bürgers (vgl. BVerfGE 7, 198 (206 f.) [BVerfG 15.01.1958 - 1 BvR 400/51]).
2. Bei Anlegung dieses MaÃstabes kann das angegriffene Urteil keinen Bestand haben, denn das Gericht hat nicht hinreichend berücksichtigt, daà durch die Annahme einer Verpflichtung des Beschwerdeführers, bei Abschluà des Mietvertrages seine Entmündigung zu offenbaren, sein Persönlichkeitsrecht betroffen wird. Nicht nur die öffentliche Bekanntmachung einer Entmündigung greift in das allgemeine Persönlichkeitsrecht ein, worauf das Landgericht unter Hinweis auf BVerfGE 78, 77 allein abgestellt hat, sondern auch die Pflicht zur Offenbarung gegenüber einem Vertragspartner schränkt dieses Grundrecht ein. Zwar wird das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nicht vorbehaltlos gewährleistet; es kann seine Grenze unter anderem in den Rechten Dritter finden (Art. 2 Abs. 1 GG). Das ist aber nicht so zu verstehen, daà dieses Recht von vorneherein zurücktreten muÃ, wenn Rechte anderer berührt werden. Vielmehr sind die betroffenen Belange - im Rahmen der zivilrechtlichen Beurteilung - gegeneinander abzuwägen.
Bei dieser Abwägung muÃte hier das Interesse des Beschwerdeführers an der Geheimhaltung seiner Entmündigung berücksichtigt werden. Die Entmündigung wirkt sich nicht nur im Rechtsverkehr beschränkend aus. Sie betrifft vielmehr die Person als ganze. Die Offenbarung der Entmündigung birgt die Gefahr der sozialen Abstempelung in sich und kann die am Sozialstaatsprinzip orientierten HilfsmaÃnahmen zur sozialen Wiedereingliederung erschweren (vgl. BVerfGE 78, 77 (87) [BVerfG 09.03.1988 - 1 BvL 49/86]). MüÃte der Beschwerdeführer, wie das Landgericht im Ergebnis gemeint hat, seine Entmündigung ohne Prüfung der Frage offenbaren, ob sein Vertragsgegner überhaupt ein schützenswertes Interesse an der Offenlegung hat, so würde es ihm nahezu unmöglich gemacht, Wohnraum zu mieten. Denn ein Vermieter nimmt im allgemeinen undifferenziert an, daà ein Entmündigter kein zuverlässiger Vertragspartner sei, und wird schon deshalb die Begründung einer vertraglichen Bindung scheuen. Diese weitreichenden und für den Beschwerdeführer durchaus nachteiligen Folgen sind jedenfalls mit zu erwägen und dem aus der Eigentumsgarantie folgenden Interesse des Vermieters gegenüberzustellen.
Dabei hätte auf seiten des Beschwerdeführers berücksichtigt werden müssen, daà er nur wegen Geistesschwäche entmündigt und deshalb in seiner Geschäftsfähigkeit lediglich beschränkt war (§ 114 BGB). Die Entmündigung hatte nicht, wie das Landgericht irrigerweise angenommen hat, zu seiner Geschäftsunfähigkeit geführt. Denn das hätte vorausgesetzt, daà er wegen Geisteskrankheit entmündigt worden wäre (§ 104 Nr. 3 BGB). Bereits diesen Ansatzpunkt hat das Landgericht verfehlt und nicht gesehen, daà sich die Frage nach der Offenbarungspflicht bei dieser Rechtslage anders stellt. Zwar kann auch bei einem Geistesschwachen ein die freie Willensbestimmung ausschlieÃender Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit vorliegen und zur Geschäftsunfähigkeit nach § 104 Nr. 2 BGB führen, sofern nicht der Zustand seiner Natur nach ein vorübergehender ist (sogenannte natürliche Geschäftsunfähigkeit). Auf eine solche krankhafte Störung der Geistestätigkeit kann aber bei einer Entmündigung wegen Geistesschwäche nicht ohne weiteres geschlossen werden. Bereits die gesetzliche Lösung, die zwischen Entmündigung wegen Geisteskrankheit (§ 104 Nr. 3 BGB) und aus anderen Gründen einschlieÃlich der Geistesschwäche unterscheidet (§ 114 BGB) und hieran unterschiedliche Rechtsfolgen knüpft, macht deutlich, daà der Gesetzgeber bei Geistesschwachen nicht typischerweise von natürlicher Geschäftsunfähigkeit ausgeht.
Die Fehlinterpretation, die den Beschwerdeführer einem Geschäftsunfähigen gleichstellt, hat dem Landgericht den Blick für das Gewicht der gegenläufigen Interessen verstellt. Das aus der Eigentumsgewährleistung flieÃende Recht der Kläger ist weniger berührt, wenn der Beschwerdeführer lediglich beschränkt geschäftsfähig und nicht geschäftsunfähig war. Das Interesse des Vermieters geht zunächst dahin, einen wirksamen Mietvertrag mit der sich daraus ergebenden Verpflichtung zur Mietzinszahlung abzuschlieÃen. Dieses Interesse war hier auch ohne Offenbarung der Entmündigung gesichert, denn der Vormund des Beschwerdeführers hatte dem Mietvertrag zugestimmt und überdies erklärt, daà er für die Mietzinszahlungen sorgen werde. Auch das Risiko bei etwaigen Vertragsverletzungen ist für den Vermieter im Falle eines lediglich wegen Geistesschwäche Entmündigten geringer, weil hier keine Vermutung für die Schuldunfähigkeit besteht.
(gez.) Herzog
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