Bundesverfassungsgericht
Entscheidung vom 02.07.2013, Az.: 2 BVR 2392/12
Entscheidungsgründe
Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die im Anschluss an eine rechtskräftige strafgerichtliche Verurteilung erfolgte Anordnung der Entnahme von Körperzellen und der molekulargenetischen Untersuchung derselben zur Identitätsfeststellung in künftigen Strafverfahren.
1. Der Beschwerdeführer wurde durch rechtskräftiges Urteil des Amtsgerichts Arnstadt vom 1. November 2011 wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern verwarnt und zu 60 Stunden gemeinnütziger Arbeit verurteilt. Nach den getroffenen Feststellungen hatte der zum Tatzeitpunkt 14-jährige Beschwerdeführer eine - wie er wusste - zum Tatzeitpunkt 13-jährige Klassenkameradin am Hals geküsst, so dass ein sogenannter "Knutschfleck" deutlich sichtbaren Ausmaßes entstand, und ihr darüber hinaus mehrfach mit seinen Händen an das bedeckte Geschlechtsteil gegriffen.
Aufgrund dieser Verurteilung ordnete das Amtsgericht Erfurt mit Beschluss vom 9. März 2012 "gemäß § 81g i.V.m. § 81f StPO i.V.m. § 2 DNAIdentitätsfeststellungsgesetz" die Entnahme und molekularbiologische Untersuchung von Körperzellen des Beschwerdeführers zur Feststellung des DNA-Identifizierungsmusters mit dem Ziel an, die Eigenschaften in die DNA-Analysedatei einzustellen. Zur Begründung führte das Gericht aus, es liege eine Straftat von erheblicher Bedeutung vor, was sich allein aus der Art der Tat ergebe. Auch bestehe die Befürchtung, dass gegen den Beschwerdeführer künftig erneut Strafverfahren wegen einer Straftat von erheblicher Bedeutung zu führen seien. Dabei spreche bereits der Wortlaut des § 81g Abs. 1 StPO dafür, dass an die Begründung dieser sogenannten Negativprognose nur geringe Anforderungen zu stellen seien. Die angeordnete Maßnahme sei im Hinblick auf die Geringfügigkeit des körperlichen Eingriffs auch verhältnismäßig.
Der hiergegen eingelegten Beschwerde des Beschwerdeführers half das Amtsgericht Erfurt mit Beschluss vom 3. Juli 2012 nicht ab. Ausschlaggebend für die Negativprognose im konkreten Fall sei die labile Persönlichkeit des Beschwerdeführers, der insgesamt eine problematische Persönlichkeitsstruktur aufweise. Dies zeige die Entwicklung des Beschwerdeführers, der aufgrund seiner Verhaltensauffälligkeiten mehrere Wochen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie gewesen sei. Dort seien eine altersgerechte Entwicklung, eine mittelgradige depressive Episode sowie "Störung im Sozialverhalten und den Emotionen des Beschwerdeführers" festgestellt worden. Bei dem derzeit 15 Jahre alten Beschwerdeführer sei die sexuelle Entwicklung noch nicht abgeschlossen, weshalb nicht ausgeschlossen werden könne, dass sich ein Verhalten wie in der abgeurteilten Tat wiederhole.
Mit Beschluss vom 14. September 2012 verwarf das Landgericht Erfurt die Beschwerde "aus den weiterhin zutreffenden Gründen der angefochtenen Entscheidung in Verbindung mit den zutreffenden Gründen der Nichtabhilfeentscheidung" als unbegründet.
2. Mit der fristgerecht eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung von Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG durch die Beschlüsse des Amtsgerichts Erfurt und des Landgerichts Erfurt; daneben beantragt er die Bewilligung von Prozesskostenhilfe. Die nach § 81g StPO zu treffende Prognoseentscheidung sei nicht ausreichend einzelfallbezogen begründet worden. Insbesondere sei nicht berücksichtigt worden, dass der Beschwerdeführer zur Tatzeit selbst erst 14 Jahre alt gewesen sei und die Handlungen aus seiner Sicht auf gegenseitiger Zuneigung beruht hätten. Es habe sich daher um eine jugendtypische Tat gehandelt.
Auf Antrag des Beschwerdeführers hat die Kammer mit Beschluss vom 23. Januar 2013 die Vollziehung der angefochtenen Beschlüsse bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde - längstens für die Dauer von sechs Monaten - im Wege der einstweiligen Anordnung ausgesetzt.
Die Akten des Ausgangsverfahrens haben der Kammer vorgelegen. Das Thüringer Justizministerium hat von der ihm eingeräumten Gelegenheit zur Stellungnahme keinen Gebrauch gemacht.
Die Verfassungsbeschwerde wird zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt ist (§ 93b i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG für eine der Verfassungsbeschwerde stattgebende Entscheidung der Kammer sind gegeben. Die an die Zulässigkeit der Entnahme und molekulargenetischen Untersuchung von Körperzellen und die Begründung entsprechender richterlicher Anordnungen zu stellenden verfassungsrechtlichen Anforderungen sind in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hinreichend geklärt und wiederholt ausgesprochen worden (vgl. BVerfGE 103, 21; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 15. März 2001 - 2 BvR 1841/00 u.a. -, juris; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 20. Dezember 2001 - 2 BvR 429/01 u.a. -, juris; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 16. Februar 2006 - 2 BvR 561/03 -, juris; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 18. September 2007 - 2 BvR 2577/06 -, juris; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Mai 2009 - 2 BvR 287/09 u.a. -, juris). Danach ist die zulässige Verfassungsbeschwerde in einem die Entscheidungszuständigkeit der Kammer eröffnenden Sinn offensichtlich begründet.
1. Die Feststellung und Speicherung eines DNA-Identifizierungsmusters greift in das durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verbürgte Recht auf informationelle Selbstbestimmung ein. Dieses Recht gewährleistet die aus dem Gedanken der Selbstbestimmung folgende Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden (BVerfGE 65, 1 <41 ff.>; 78, 77 <84>). Diese Verbürgung darf nur im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit und unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden; die Einschränkung darf nicht weiter gehen als es zum Schutz des öffentlichen Interesses unerlässlich ist (vgl. BVerfGE 103, 21 <32 f.>).
Die Gerichte sind bei der Auslegung und Anwendung des § 81g StPO gehalten, die Bedeutung und Tragweite des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung angemessen zu berücksichtigen. Es bedarf einer Darlegung positiver, auf den Einzelfall bezogener Gründe, dass wegen der Art oder Ausführung der bereits abgeurteilten Straftaten, der Persönlichkeit des Verurteilten oder sonstiger Erkenntnisse Grund zu der Annahme besteht, dass gegen ihn künftig erneut Strafverfahren wegen Straftaten von erheblicher Bedeutung zu führen sind. Die Prognoseentscheidung setzt voraus, dass ihr eine zureichende Sachaufklärung vorausgegangen ist und die für sie bedeutsamen Umstände nachvollziehbar abgewogen werden (vgl. BVerfGE 103, 21 <35 ff.>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 18. September 2007 - 2 BvR 2577/06 -, juris, Rn. 16 f.; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Mai 2009 - 2 BvR 287/09 u.a. -, juris, Rn. 22).
2. Diesen Anforderungen genügen die angefochtenen Entscheidungen nicht. Auch unabhängig davon, dass das Amtsgericht Erfurt als Rechtsgrundlage unter anderem § 2 DNA-Identitätsfeststellungsgesetz heranzieht, der bereits mit Ablauf des 31. Oktober 2005 außer Kraft getreten ist, weisen die Beschlüsse gravierende inhaltliche Mängel auf. Es kann dahingestellt bleiben, ob die Erwägungen des Amtsgerichts, auf die das Landgericht ohne eigene Begründung Bezug nimmt, für sich genommen überhaupt geeignet wären, die Annahme zu rechtfertigen, dass gegen den Beschwerdeführer künftig Strafverfahren wegen Straftaten von erheblicher Bedeutung zu führen sein werden. Jedenfalls hat das Gericht sowohl bei der Prognoseentscheidung als auch bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung wesentliche Umstände des Einzelfalles nicht berücksichtigt.
Zwar handelt es sich bei der Straftat, die den Anlass für die gegen den Beschwerdeführer ergangene Anordnung nach § 81g Abs. 4 in Verbindung mit Abs. 1 Satz 1 StPO bildet, um eine solche gegen die sexuelle Selbstbestimmung und damit um eine die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllende Anlasstat. Dies entbindet das Gericht jedoch nicht von einer einzelfallbezogenen Prognoseentscheidung in Bezug auf künftige Straftaten von erheblicher Bedeutung. Der ausweislich der Feststellungen im Urteil des Amtsgerichts Arnstadt strafrechtlich zuvor noch nicht in Erscheinung getretene Beschwerdeführer war zum Tatzeitpunkt erst 14 Jahre alt, die Geschädigte eine 13-jährige Klassenkameradin. Die dem Beschwerdeführer vorgeworfenen sexuellen Handlungen hatten kein erhebliches Ausmaß. Nach dem Vortrag des Beschwerdeführers beruhten sie aus seiner Sicht auf gegenseitiger Zuneigung. Weder den angegriffenen Entscheidungen noch dem Urteil des Amtsgerichts Arnstadt kann Abweichendes entnommen werden. Das Verhalten des Beschwerdeführers stellt sich somit insgesamt als jugendtypische Verfehlung dar, was auch durch die im untersten Bereich des jugendstrafrechtlichen Sanktionenspektrums liegende Rechtsfolge im Urteil des Amtsgerichts Arnstadt zum Ausdruck kommt. Dieser Umstand bleibt in den angefochtenen Entscheidungen ohne jede Berücksichtigung. Eine erkennbare Beachtung dieses Faktors wäre aber erforderlich gewesen, da er geeignet ist, die Prognoseentscheidung in Bezug auf künftige Straftaten von erheblicher Bedeutung maßgeblich zu beeinflussen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 18. September 2007 - 2 BvR 2577/06 -, juris, Rn. 24).
Auch lassen die angefochtenen Entscheidungen nicht erkennen, ob die möglichen Auswirkungen der Anordnung einer Erfassung und Speicherung von Genmerkmalen auf die weitere Entwicklung des jugendlichen Beschwerdeführers Gegenstand der den Gerichten auch unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit obliegenden Abwägung war. Dem Erziehungsgedanken des Jugendstrafrechts wohnt das Verfassungsrang beanspruchende Ziel möglichst weitgehender sozialer Integration inne (vgl. BVerfGE 116, 69 <85>). Die Einwirkung exekutiver Maßnahmen auf Jugendliche ist aufgrund deren noch andauernder Labilität sowie ihrer erhöhten subjektiven "Eindrucksfähigkeit" gravierender als auf Erwachsene. Abhängig von den konkreten Umständen kann durch die dauerhafte Speicherung eines unverwechselbaren Erkennungsmerkmals eines Jugendlichen eine "Brandmarkung" drohen, welche als determinierendes Element die Möglichkeit andauernder Straffreiheit als Grundvoraussetzung sozialer Integration einschränken kann (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 18. September 2007 - 2 BvR 2577/06 -, juris, Rn. 28).
3. Die Anordnung der Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG. Damit erledigt sich zugleich der Antrag des Beschwerdeführers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe. Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 und § 14 Abs. 1 RVG.