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Bundesverfassungsgericht

Entscheidung vom 01.09.2008, Az.: 2 BVR 939/08

Entscheidungsgründe

Die Verfassungsbeschwerde betrifft eine richterliche Anordnung der Entnahme und molekulargenetischen Untersuchung von Körperzellen zur Identitätsfeststellung in künftigen Strafverfahren gemäß § 81g Abs. 1 StPO.

1. Die Beschwerdeführerin ist in der Vergangenheit unter anderem wegen unerlaubten Erwerbs und Besitzes von Betäubungsmitteln, Ausübung der verbotenen Prostitution und Diebstahls wiederholt straffällig geworden. Zuletzt wurde sie mit Urteil des Amtsgerichts München vom 1. August 2002 wegen vorsätzlichen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten auf Bewährung verurteilt. Diese und eine weitere zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe aus einer früheren Verurteilung wurden der Beschwerdeführerin - nach Ablauf der Bewährungszeit - mit Beschluss des Landgerichts Augsburg vom 28. September 2005 erlassen.

2. Mit Beschluss vom 13. Dezember 2007 ordnete das Amtsgericht München gemäß §§ 81g, 81f und 81a Abs. 2 StPO die Entnahme und molekulargenetische Untersuchung von Körperzellen der Beschwerdeführerin zur Identitätsfeststellung in künftigen Strafverfahren an. Die Beschwerdeführerin sei durch Urteil des Amtsgerichts München vom 1. August 2002 zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten auf Bewährung verurteilt worden. Des Weiteren sei sie vor dieser Anlasstat mehrfach wegen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz sowie wegen Diebstahls und Prostitution straffällig geworden. Insbesondere sei sie am 10. September 2000 wegen vorsätzlichen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt worden. Bei ihren Straftaten handele es sich zwar im Einzelnen nicht in jedem Fall um erhebliche Straftaten nach § 81g StPO. Indes stehe die Vielzahl der begangenen Delikte im Unrechtsgehalt durchaus einer erheblichen Straftat gleich. Die DNA-Maßnahme sei im Hinblick auf zukünftige Straftaten zur Identifizierung notwendig.

3. Gegen diesen Beschluss legte die Beschwerdeführerin Beschwerde ein. Zur Begründung brachte sie unter anderem vor, sie sei weder während ihrer Bewährungszeit noch in den zwei Jahren nach deren Ende straffällig oder sonst wie auffällig geworden. Vielmehr habe sie sich einer Langzeittherapie und regelmäßigen Drogenscreenings unterzogen. Insgesamt habe sie eine positive Entwicklung genommen, so dass die Anordnung der Entnahme und Untersuchung von Körperzellen nicht gerechtfertigt sei.

4. Mit Beschluss vom 7. April 2008 verwarf das Landgericht München I die Beschwerde der Beschwerdeführerin - im Wesentlichen aus den Gründen des angefochtenen Beschlusses - als unbegründet. Ergänzend führte das Landgericht aus, aufgrund des eingeholten Bundeszentralregisterauszugs stehe fest, dass die Beschwerdeführerin bereits 13 mal straffällig geworden sei, allein viermal wegen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz. Es seien bereits mehrfach Bewährungsstrafen verhängt worden, unter anderem eine Freiheitsstrafe von einem Jahr wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz. Es bestehe daher Grund zu der Annahme, dass die Beschwerdeführerin Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen werde.

1. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin Verstöße gegen Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG. Sie trägt sinngemäß vor, die Gerichte hätten die Umstände ihres Falles nicht hinreichend gewürdigt. Sie habe in ihren schlimmsten Krisenzeiten - mit Ausnahme von Diebstählen geringwertiger Sachen - ausschließlich selbst schädigende Straftaten begangen. Sie habe illegale Drogen zum ausschließlichen Eigenverbrauch erworben und sei der Prostitution nachgegangen. "Straftaten von erheblicher Bedeutung" im Sinne des § 81g Abs. 1 Satz 1 StPO seien hierin entgegen der Auffassung des Landgerichts nicht zu sehen. Die Prostitution sei mittlerweile noch nicht einmal mehr strafbar. Im Übrigen sei die gegen sie verhängte fünfjährige Bewährungsfrist mittlerweile seit mehr als zweieinhalb Jahren abgelaufen, ohne dass sie auch nur einmal straffällig geworden sei. Sie unterziehe sich einer Langzeittherapie und regelmäßigen Drogenscreenings. Insgesamt habe sie eine positive Entwicklung genommen; ihre Situation habe sich weitgehend stabilisiert. Die Anordnung der Entnahme und molekulargenetischen Untersuchung von Körperzellen erweise sich daher insgesamt als unverhältnismäßig und nicht gerechtfertigt.

2. Mit Beschluss vom 11. Juni 2008 hat die Kammer im Wege einer einstweiligen Anordnung die Vollziehung der angegriffenen Beschlüsse bis zu einer Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde ausgesetzt. Die Kammer hat dem Bayerischen Staatsministerium der Justiz Gelegenheit zur Äußerung zu der Verfassungsbeschwerde gegeben. Das Staatsministerium hat von einer Stellungnahme abgesehen.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung ihres Rechts auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG angezeigt ist (§ 93b, § 93a Abs. 2 Buchst. b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung nach § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG liegen vor. Die Verfassungsbeschwerde ist in einer die Entscheidungszuständigkeit der Kammer eröffnenden Weise offensichtlich begründet; die für die Beurteilung maßgeblichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden.

1. Die angegriffenen Beschlüsse des Landgerichts München I und des Amtsgerichts München verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG.

a) Die Feststellung, Speicherung und (künftige) Verwendung eines DNA-Identifizierungsmusters greifen in das durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verbürgte Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ein (vgl. BVerfGE 103, 21 <32 f.>). Dieses Recht gewährleistet die aus dem Gedanken der Selbstbestimmung folgende Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden (vgl. BVerfGE 65, 1 <41 f.>; 78, 77 <84>). Es gewährt seinen Trägern Schutz gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung oder Weitergabe der auf sie bezogenen, individualisierten oder individualisierbaren Daten (vgl. BVerfGE 65, 1 <43>; 67, 100 <143>). Diese Verbürgung darf nur im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit und unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden; die Einschränkung darf nicht weiter gehen als es zum Schutze öffentlicher Interessen unerlässlich ist (vgl. BVerfGE 65, 1 <44>; 67, 100 <143>).

b) Dem Schrankenvorbehalt für Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung trägt die gesetzliche Regelung § 81g StPO ausreichend Rechnung (vgl. BVerfGE 103, 21 <33 ff.>). Dies gilt auch insoweit, als § 81g Abs. 1 Satz 2 StPO die Erhebung eines DNA-Identifizierungsmusters auch wegen sonstiger Straftaten erlaubt, die isoliert betrachtet nicht von erheblicher Bedeutung sind, deren wiederholte Begehung aber im Unrechtsgehalt einer Straftat von erheblicher Bedeutung gleichsteht (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 14. August 2007 - 2 BvR 1293/07 - juris, Rn. 5).

c) Die Gerichte sind bei der Auslegung und Anwendung des § 81g StPO allerdings gehalten, die Bedeutung und Tragweite des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung angemessen zu berücksichtigen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 20. Dezember 2001 - 2 BvR 429/01 u.a. -; juris, Rn. 17). In den Fällen des § 81g Abs. 1 Satz 2 StPO setzt eine Anordnung der Maßnahme daher zunächst voraus, dass das Gericht einzelfallbezogen und unter strenger Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes darlegt, warum die wiederholte Begehung sonstiger Straftaten im Unrechtsgehalt einer Straftat von erheblicher Bedeutung gleichsteht (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 14. August 2007 - 2 BvR 1293/07 -; juris, Rn. 5).

Notwendig für die Anordnung der Maßnahme nach § 81g StPO ist des Weiteren, dass wegen der Art oder Ausführung der bereits abgeurteilten Straftaten, der Persönlichkeit des Verurteilten oder sonstiger Erkenntnisse Grund zu der Annahme besteht, dass gegen ihn künftig erneut Strafverfahren wegen Straftaten von erheblicher Bedeutung zu führen sind. Zwar wird keine erhöhte Wahrscheinlichkeit für einen Rückfall gefordert. Allein die Annahme, eine Rückfallgefahr eines vor langer Zeit verurteilten Betroffenen sei "nicht sicher auszuschließen", kann indes einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nicht rechtfertigen. Es bedarf vielmehr positiver, auf den Einzelfall bezogener Gründe für die Annahme der Wahrscheinlichkeit künftiger Straftaten, für die das DNA-Identifizierungsmuster einen Aufklärungsansatz durch einen (künftigen) Spurenvergleich bieten kann. Eine bloße Wiedergabe des Gesetzeswortlauts reicht nicht aus (vgl. BVerfGE 103, 21 <35 ff.>; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 15. März 2001 - 2 BvR 1841/00 u.a. -; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 16. Februar 2006 - 2 BvR 561/03 - beide juris).

Eine rechtliche Bindung an eine von einem anderen Gericht zur Frage der Strafaussetzung zur Bewährung getroffene Sozialprognose besteht bei der Entscheidung nach § 81g Abs. 1 StPO nicht. Jedoch sind im Rahmen der Gefahrenprognose im Sinne des § 81g Abs. 1 StPO Umstände in den Abwägungsvorgang einzustellen, die gleichermaßen bei einer Sozialprognose für die Strafaussetzung zur Bewährung bestimmend sein können. Dies gilt etwa für die Rückfallgeschwindigkeit, den Zeitablauf seit der früheren Tatbegehung, das Verhalten des Betroffenen in der Bewährungszeit oder einen Straferlass. Aufgrund des nach dem Gesetz unterschiedlichen Prognosemaßstabes kann die Annahme einer Wiederholungsgefahr im Sinne von § 81g StPO indes - im Einzelfall - auch dann gerechtfertigt sein, wenn zuvor eine Strafaussetzung zur Bewährung erfolgt war. In Fällen gegenläufiger Prognosen durch verschiedene Gerichte entsteht indes regelmäßig ein erhöhter Begründungsbedarf für die nachfolgende gerichtliche Entscheidung (vgl. BVerfGE 103, 21 <35 ff.>).

d) Diesen Anforderungen an die Rechtmäßigkeit einer Maßnahme nach § 81g Abs. 1 StPO entsprechen die angegriffenen Entscheidungen des Landgerichts München I und des Amtsgerichts München nicht.

Die Gerichte haben sich darauf beschränkt, die von der Beschwerdeführerin begangenen und abgeurteilten Straftaten zu benennen, und - unter bloßer Wiederholung des Gesetzeswortlauts - allein aus der wiederholten Tatbegehung geschlossen, die Beschwerdeführerin werde auch in Zukunft Straftaten (von erheblicher Bedeutung) begehen. Die besonderen Umstände des Falles der Beschwerdeführerin haben sie dabei außer Acht gelassen. So gehen weder das Amtsgericht noch das Landgericht darauf ein, dass die letzte gegen die Beschwerdeführerin verhängte Strafe zur Bewährung ausgesetzt worden war und diese Strafe mittlerweile - nach erfolgreicher Bewährung - erlassen worden ist. Auch den Umstand, dass die Beschwerdeführerin - auch nach Ablauf ihrer Bewährungsfrist - seit nunmehr sechs Jahren straffrei geblieben ist, lassen die Gerichte unberücksichtigt. Darüber hinaus fehlt jede auf den Einzelfall bezogene Feststellung, dass und inwieweit die von der Beschwerdeführerin begangenen Straftaten in einer Gesamtschau geeignet waren, den Rechtsfrieden empfindlich zu stören, und daher einer Straftat von erheblicher Bedeutung im Sinne des § 81g Abs. 1 Satz 2 StPO gleichstehen.

2. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.