Bundesverwaltungsgericht
Entscheidung vom 20.09.1984, Az.: 4 B 181/84
Tenor
Die Beschwerde der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 13. Juni 1984 wird zurückgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens mit Ausnahme der auÃergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst tragen.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 10.000 DM festgesetzt.
Entscheidungsgründe
Die Revision kann aus keinem der in der Beschwerdeschrift genannten Gründe zugelassen werden (§ 132 Abs. 2 VwGO).
Das Berufungsurteil weicht nicht von den in der Beschwerdeschrift genannten Entscheidungen des Senats vom 5. August 1983 - BVerwG 4 C 96.79 - (Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 55) und - BVerwG 4 C 53.81 - (Baurecht 1983, 547) sowie vom 16. August 1983 - BVerwG 4 B 94.83 - (Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 56) ab. Der Senat hat in diesen Entscheidungen ausgeführt, daà ein Nachbar in seinen Rechten auch durch eine Baugenehmigung verletzt sein kann, die von nicht nachbarschützenden Festsetzungen eines Bebauungsplans abweicht, wenn nämlich die Abweichung gegen das in § 15 Abs. 1 BauNVO konkretisierte Gebot der Rucksichtnahme verstöÃt, das unter besonderen Voraussetzungen drittschützend ist. Der Senat hat nicht gesagt, im Geltungsbereich eines Bebauungsplans sei bei einer Nachbarklage gegen eine Baugenehmigung oder zumindest gegen eine unter Ausnahmen oder Befreiungen erteilte Baugenehmigung stets das Rucksichtnahmegebot zu prüfen. Insbesondere hat er nicht angenommen, die Prüfung, ob eine Baugenehmigung das dem Nachbarn gegenüber obliegende Rücksichtnahmegebot verletzt, sei der Prüfung, ob die Baugenehmigung den Nachbarn schwer und unerträglich trifft und damit in seinem Eigentum verletzt, stets logisch vorrangig. SchlieÃlich hat der Senat nicht gesagt, das Rücksichtnahmegebot sei bereits verletzt, wenn - bei gleicher baulicher Ausnutzung des Grundstücks - eine andere, dem Nachbarn günstigere bauliche Lösung als die genehmigte möglich ist. Der Senat hat zwar ausgeführt, das Rücksichtnahmegebot sei nicht erst dann verletzt, wenn die Schwelle zum schweren und unerträglichen Eingriff überschritten ist, sondern das Rücksichtnahmegebot beginne vor dieser Schwelle. Das bedeutet aber nicht, daà dieser - enteignungsrechtlichen - Schwelle stets ein drittschützendes Rücksichtnahmegebot vorgeschaltet wäre; denn nach der Rechtsprechung des Senats gibt es ein nachbarschützendes Rücksichtnahmegebot nur, soweit es der Gesetzgeber normiert hat; es handelt sich, wie der Senat auch in den genannten Entscheidungen betont hat, um ein einfachrechtliches Gebot, das zu statuieren der Gesetzgeber von Verfassungs wegen nicht gehalten ist und das er zwar an einigen Stellen, aber nicht als allgemeines baurechtliches Gebot durchgehend geschaffen hat. Für den Geltungsbereich von Bebauungsplänen hat der Senat in den genannten Entscheidungen in § 15 Abs. 1 BauNVO die einfachrechtliche Normierung eines Rücksichtnahmegebots gesehen. Der Verwaltungsgerichtshof hat § 15 Abs. 1 BauNVO angewandt und - ohne daà dies Rechtsfehler erkennen läÃt - ausgeführt, das genehmigte Vorhaben der Beigeladenen zu 1) widerspreche nach näherer Bestimmung des § 15 Abs. 1 BauNVO der Eigenart des Baugebiets nicht und von ihm könnten auch nicht Belästigungen oder Störungen ausgehen, die nach der Eigenart des Baugebiets in diesem selbst oder in dessen Umgebung unzumutbar sind. Wenn eine Baugenehmigung schon nicht objektivrechtlich gegen § 15 Abs. 1 BauNVO verstöÃt, kann sie erst recht nicht das in § 15 Abs. 1 BauNVO enthaltene, jedoch an engere Voraussetzungen geknüpfte drittschützende Rücksichtnahmegebot verletzen. Insoweit steht das Berufungsurteil im Einklang mit den genannten Entscheidungen des Senats.
Das Berufungsurteil weicht auch nicht von der Entscheidung des Senats vom 13. März 1981 - BVerwG 4 C 1.78 - (Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 44) ab. Der Senat hat in dieser Entscheidung angenommen, daà im bebauten Ortsteil (§ 34 BBauG) ein zwölfgeschossiges Gebäude für ein nur 15 m entferntes 2 1/2-geschossiges Wohnhaus nach Höhe und Volumen "erdrückend" und damit rücksichtslos wirken kann. Wenn der Verwaltungsgerichtshof im Geltungsbereich eines Bebauungsplans eine solche Wirkung im Verhältnis zweier Häuser zueinander, die - bis zu zweigeschossig - um wenige Meter unterschiedlich hoch und 8 m voneinander entfernt sind, nicht in Betracht gezogen hat, weicht er damit nicht von dem genannten Urteil des Senats ab.
Das Berufungsurteil weicht auch nicht von der Entscheidung des Senats vom 13. Juni 1969 - BVerwG 4 C 80.67 - (Buchholz 406.11 § 34 BBauG Nr. 21) ab. In dieser Entscheidung hat der Senat ausgeführt, unter welchen rechtlichen Voraussetzungen eine behördliche Zusage bindet. Darum geht es im Berufungsurteil nicht; der Verwaltungsgerichtshof ist nämlich aufgrund der Auslegung des Inhalts der behördlichen Erklärung zu dem Ergebnis gekommen, es handele sich nicht um eine Zusage. Darüber, unter welchen Voraussetzungen eine erklärte Zusage bindet, sagt das Berufungsurteil nichts und brauchte es auch nichts zu sagen.
Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung in bezug auf die Frage, welche Anforderungen "im Hinblick auf die Stärke der eingebrachten Rechtsposition des Nachbarklägers einerseits und die Stärke der Beeinträchtigung dieser Position andererseits an eine Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme zu stellen sind" (Beschwerdeschrift S. 8); denn eine Verletzung des drittschützenden Rücksichtnahmegebots kommt - wie ausgeführt - schon deshalb nicht in Betracht, weil § 15 Abs. 1 BauNVO schon objektivrechtlich nicht verletzt ist. Sollte die Beschwerde, weil sie auf die von Festsetzungen des Bebauungsplans erteilten Befreiungen abhebt, als rechtsgrundsätzlich klärungsbedürftig in die Fragestellung einbeziehen wollen, ob im Geltungsbereich eines Bebauungsplans ein Verstoà gegen ein anderweitig als in § 15 Abs. 1 BauNVO, etwa in § 31 Abs. 2 BBauG normiertes - einfachrechtliches - Rücksichtnahmegebot in Betracht kommt, so gäbe der Fall keinen Anlaà zur Klärung dieser Frage. Geklärt ist, daà das - rechtswidrige - Abweichen von der zwingenden Festsetzung eines Bebauungsplans nur dann ohne weiteres zu einem Abwehranspruch des Nachbarn führt, wenn die Festsetzung als solche Nachbarschutz gewährt. Wenn sich aus § 31 Abs. 2 BBauG, wonach über die Befreiung "auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen" zu entscheiden ist, ein mit Abwehransprüchen des Nachbarn bewehrtes Rücksichtnahmegebot ergeben sollte, wäre ein solches Gebot jedenfalls nicht bei jedem - nicht durch Dispensgründe nach den Nummern 1 bis 3 des § 31 Abs. 2 BBauG gerechtfertigtem - Abweichen von der zwingenden Festsetzung eines Bebauungsplans und nicht bei jeder Vernachlässigung "nachbarlicher Interessen" verletzt, sondern allenfalls - ausnahmsweise - dann, wenn und soweit in "qualifizierter und zugleich individualisierter" Weise auf schutzwürdige Interessen eines erkennbar abgegrenzten Kreises Dritter Rücksicht zu nehmen ist (vgl. Urteil des Senats vom 25. Februar 1977 - BVerwG 4 C 22.75 -, BVerwGE 52, 122) und die gleichwohl erteilte Baugenehmigung oder ihre Ausnutzung die Nutzung des Nachbargrundstücks unzumutbar beeinträchtigt. Die Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs darüber, wie sich die genehmigte Ãberschreitung der zulässigen Gebäudehöhe um bis zu 2,20 m mit einem Teilstück der nordöstlichen Giebelwand auf die Belichtung und Besonnung des Grundstücks der Kläger und auf die Aussicht vom Grundstück der Kläger her auswirkt, sowie die Feststellungen über den Abstand des genehmigten Vorhabens zur Grundstücksgrenze lassen eine tatsächliche Beeinträchtigung der Kläger, die als rücksichtslos eingestuft werden könnte, nicht erkennen. Gleiches gilt für die Feststellungen in bezug auf die Abweichungen von den übrigen Festsetzungen des Bebauungsplans.
Die Beschwerde ist danach mit der Kostenfolge aus §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 3 und der Streitwertfestsetzung nach § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG zurückzuweisen.
Streitwertfestsetzung nach § 13 Abs. 1 Satz 1