Bundesverwaltungsgericht
Entscheidung vom 18.05.1995, Az.: 4 C 20/94
Tenor
Das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 18. April 1994 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlußentscheidung vorbehalten.
Entscheidungsgründe
I.Die Klägerin ist in einem überwiegend mit Wohnhäusern bebauten Bereich Eigentümerin eines unbebauten Grundstücks. Auf dem westlich angrenzenden Grundstück ist ein Gebäude vorhanden, das ursprünglich als Lagerhaus diente. Unter dem 18. Juli 1980 erteilte das Landratsamt die baurechtliche Genehmigung für die "Nutzungsänderung der Lagerhalle in eine Lackiererei". Auflagen zur Begrenzung der Emissionen waren im Genehmigungsbescheid nicht enthalten. In der Folgezeit wurde das Anwesen von verschiedenen Gewerbetreibenden als Autolackiererei genutzt, zuletzt von einer Firma, die im Mai 1988 in Konkurs fiel und den Betrieb einstellte. Bis Ende Dezember 1989 ruhte der Lackierbetrieb. Im Januar 1990 wurde er von einem anderen Unternehmer wieder aufgenommen.
Sowohl das Grundstück der Klägerin als auch das benachbarte Betriebsgrundstück liegen in einem Bereich, der in einem Bebauungsplan aus dem Jahre 1970 als allgemeines Wohngebiet festgesetzt ist.
Die Klägerin beantragte im April 1991, ihr für die Errichtung eines Wohnhauses mit Garage einen Vorbescheid zu erteilen. Das Landratsamt lehnte dies ab. Der Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos.
Das Verwaltungsgericht hat die daraufhin erhobene Verpflichtungsklage durch Gerichtsbescheid vom 23. November 1992 abgewiesen. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat die Berufung mit Urteil vom 18. April 1994 zurückgewiesen und zur Begründung u.a. ausgeführt: Das geplante Wohngebäude sei von der Art der Nutzung her zwar in einem allgemeinen Wohngebiet an sich unbedenklich. Gleichwohl könne es nicht zugelassen werden, da es unzumutbaren Belästigungen im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO ausgesetzt werde. Ein ausreichender Immissionsschutz sei für das Baugrundstück selbst dann nicht sichergestellt, wenn die Autolackiererei auf dem Nachbargrundstück nach dem Stand der Technik betrieben werde. Auf die Belange dieses Betriebes müsse die Klägerin Rücksicht nehmen. Der Bestandsschutz, den die gewerbliche Nutzung genieße, sei nicht dadurch entfallen, daß der Betrieb von Mai 1988 bis Dezember 1989 geruht habe. Trotz der zeitweiligen Einstellung sei die Anlage für die dort ausgeübte Nutzung offengeblieben, da der Berechtigte zu keiner Zeit zum Ausdruck gebracht habe, daß er von der Baugenehmigung keinen Gebrauch mehr machen wolle. Wie aus der Fortführung des Betriebs mit Beginn des Jahres 1990 geschlossen werden könne, seien die räumliche und die technische Ausstattung der Lackiererei nicht beseitigt worden. Da sich der Bestandsschutz aus der Baugenehmigung vom 18. Juli 1980 herleite, komme es nicht darauf an, ob die Autolackiererei den Festsetzungen des Bebauungsplans widerspreche.
Die Klägerin macht zur Begründung der vom Senat zugelassenen Revision geltend: Dem Berufungsurteil hafte ein Verfahrensmangel an. Der Verwaltungsgerichtshof habe ihr das rechtliche Gehör versagt, weil er nicht der Frage nachgegangen sei, ob derzeit eine Lackiererei betrieben werde, die einer immissionsschutzrechtlichen Genehmigung bedürfe. Auch in der Sache sei das Berufungsurteil fehlerhaft. Es könne nicht angehen, daß eine im Baugebiet "an sich" zulässige schutzwürdige Nutzung mit der Begründung unterbunden werde, sie setze sich unzumutbaren Immissionen einer "an sich" unzulässigen Anlage aus. Bei einer solchen Betrachtungsweise werde das immissionsschutzrechtliche Verursacherprinzip ins Gegenteil verkehrt und der Grundsatz der Gegenseitigkeit, der dem Gebot der Rücksichtnahme zugrunde liege, in Frage gestellt. Es sei nicht Aufgabe der Baugenehmigungsbehörde, den Bauherrn vor sich selbst zu schützen. Der Bauinteressent müsse sich allenfalls gefallen lassen, Schutzvorkehrungen zu treffen.
Der Beklagte ist der Revision entgegengetreten.
Der Oberbundesanwalt hat sich am Verfahren nicht beteiligt.
II.Die Revision der Klägerin hat Erfolg. Sie führt aus Gründen des formellen und des materiellen Rechts zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
1. Die Verfahrensrüge greift durch.
Das Berufungsgericht hat der Klägerin das rechtliche Gehör versagt, weil es nicht der Frage nachgegangen ist, ob auf dem Nachbargrundstück derzeit eine Lackiererei betrieben wird, die einer immissionsschutzrechtlichen Genehmigung bedarf. Die Klägerin hat unter Hinweis auf die Nr. 5.1 des Anhangs zur 4. BImSchV mehrfach behauptet, in der Autolackiererei der Firma T. würden stündlich mehr als 25 kg Lösungsmittel und Kunstharze verbraucht. Zum Beweis hierfür hat sie u.a. die Einholung eines Sachverständigengutachtens beantragt. Das Berufungsgericht ist auf diese Behauptung und den Beweisantrag nicht eingegangen.
Der Anspruch auf rechtliches Gehör umfaßt die Pflicht des Gerichts, sowohl die Ausführungen als auch die Anträge der Prozeßbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. April 1989 - BVerwG 4 C 22.88 - Buchholz 406.17 Bauordnungsrecht Nr. 29; Beschluß vom 7. Oktober 1987 - BVerwG 9 CB 20.87 - Buchholz 310 § 86 Abs. 2 VwGO Nr. 31). Zwar ist es dem Tatrichter nicht verwehrt, Parteivortrag aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts teilweise oder ganz unberücksichtigt zu lassen (vgl. BVerwG, Urteil vom 21. November 1989 - BVerwG 9 C 53.89 - Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 213). Geht er dem wesentlichen Inhalt der Tatsachenbekundungen eines Beteiligten nicht gemäß § 86 Abs. 1 VwGO nach, so muß er jedoch zumindest nach § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO darlegen, welche rechtlichen oder tatsächlichen Überlegungen ihn veranlaßt haben, von einer Auseinandersetzung mit dem Vorbringen abzusehen (vgl. BVerwG, Urteil vom 6. September 1988 - BVerwG 4 C 15.88 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 206). Hieran läßt es das Berufungsgericht fehlen.
Die Frage, ob die Lackiererei einer immissionsschutzrechtlichen Genehmigung bedarf, ist entscheidungserheblich. Von ihrer Beantwortung kann es abhängen, ob der vom Berufungsgericht angenommene Bestandsschutz besteht. Nach der Rechtsprechung des Senats erlischt der Bestandsschutz, wenn anstelle der genehmigten Nutzung eine andersartige Nutzung aufgenommen wird. Von einer den Bestandsschutz vernichtenden Nutzungsänderung ist auszugehen, sobald die jeder Nutzung eigene tatsächliche Variationsbreite überschritten wird und der neuen Nutzung unter städtebaulichen Gesichtspunkten eine andere Qualität zukommt (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Mai 1990 - BVerwG 4 C 49.89 - Buchholz 406.16 Grundeigentumsschutz Nr. 52). Dies ist der Fall, wenn die neue Nutzung im Gegensatz zur früheren nach § 4 Abs. 1 BImSchG genehmigungsbedürftig ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Januar 1993 - BVerwG 4 C 19.90 - Buchholz 406.11 § 34 BauGB Nr. 155).
Auch aus prozessualen Gründen durfte das Berufungsgericht über das Beweisvorbringen nicht wortlos hinweggehen. Der Beweisantrag war weder unsubstantiiert (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 8. Februar 1983 - BVerwG 9 C 598.82 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 2; Beschluß vom 25. Januar 1988 - BVerwG 7 CB 81.87 - Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 196) noch lief er auf einen unzulässigen Beweisermittlungs- oder -ausforschungsantrag hinaus (vgl. hierzu BVerwG, Beschlüsse vom 7. September 1990 - BVerwG 7 B 116.90 - Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 278 und vom 5. Oktober 1990 - BVerwG 4 B 249.89 - Buchholz 442.40 § 9 LuftVG Nr. 6). Das angebotene Beweismittel war auch nicht schlechthin untauglich (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 11. Dezember 1981 - BVerwG 4 C 71.79 - NVwZ 1982, 244). Dem Berufungsurteil ist nicht zu entnehmen, welche Umstände den Schluß hätten rechtfertigen können, daß die tatrichterliche Überzeugung auch bei Beachtung des Verbots der Vorwegnahme der Beweiswürdigung nicht mehr zu erschüttern war. Das Berufungsgericht hat auch keine Feststellungen getroffen, die die Annahme nahelegen, daß es für die Behauptung der Klägerin, die Lackiererei auf dem Nachbargrundstück unterliege in ihrer jetzigen Form der immissionsschutzrechtlichen Genehmigungspflicht, an jeglichem greifbaren Anhaltspunkt fehlt. Die etwaige Unwahrscheinlichkeit einer behaupteten Tatsache rechtfertigt es, zumindest ohne nähere Begründung, allein nicht, eine Beweisaufnahme zu unterlassen (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. März 1984 - BVerwG 4 C 52.80 - Buchholz 303 § 418 ZPO Nr. 3).
2. Auch der materiellrechtlichen Prüfung hält das Berufungsurteil nicht stand.
a) Das Berufungsgericht hat erkannt, daß der Erfolg der auf die Erteilung eines Bauvorbescheides für ein Wohngebäude gerichteten Klage maßgeblich davon abhängt, ob die der Wohnnutzung abträgliche Autolackiererei durch eine Baugenehmigung gedeckt ist, die ihr ohne Rücksicht auf die planungsrechtliche Situation Bestandsschutz verleiht. Es hat in diesem Zusammenhang festgestellt, daß das Nachbargrundstück für Zwecke der Autolackiererei bis zum Mai 1988 genutzt und dieser Art der Nutzung ab Januar 1990 erneut zugeführt wurde. Es hat nicht in Abrede gestellt, daß dieser Unterbrechung Bedeutung bei der Beurteilung der Frage beizumessen sein kann, ob der Bestandsschutz bis in die Gegenwart hinein fortwirkt, hat aber dem Zeitfaktor, der bei dieser Würdigung in Rechnung zu stellen ist, nicht die Beachtung geschenkt, die ihm zukommt. Der Senat geht davon aus, daß die zu § 35 Abs. 5 Nr. 2 BBauG (jetzt: § 35 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 BauGB bzw. § 4 Abs. 3 Satz 1 BauGB-MaßnG) entwickelten Grundsätze als Orientierungshilfe auch im Rahmen der Fragestellung eine Rolle spielen, nach welchem Zeitablauf ein Wechsel der Grundstückssituation auf den Bestandsschutz durchschlägt (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. März 1988 - BVerwG 4 C 21.85 - Buchholz 406.16 Grundeigentumsschutz Nr. 47). Er hat in seiner Rechtsprechung zur erleichterten Zulassung der "alsbaldigen Neuerrichtung eines zulässigerweise errichteten, durch Brand, Naturereignisse oder andere außergewöhnliche Ereignisse zerstörten, gleichartigen Gebäudes an gleicher Stelle" ein Zeitmodell entworfen, das auf die Beurteilung der Fortdauer des Bestandsschutzes übertragbar ist. Im ersten Jahr nach der Zerstörung eines Bauwerks rechnet die Verkehrsauffassung stets mit dem Wiederaufbau. Eine Einzelfallprüfung erübrigt sich. Im zweiten Jahr nach der Zerstörung spricht für die Annahme, daß die Verkehrsauffassung einen Wiederaufbau noch erwartet, eine Regelvermutung, die im Einzelfall jedoch entkräftet werden kann, wenn Anhaltspunkte für das Gegenteil vorhanden sind. Nach Ablauf von zwei Jahren kehrt sich diese Vermutung um. Es ist davon auszugehen, daß die Grundstückssituation nach so langer Zeit für eine Neuerrichtung nicht mehr offen ist. Der Bauherr hat besondere Gründe dafür darzulegen, daß die Zerstörung des Gebäudes noch keinen als endgültig erscheinenden Zustand herbeigeführt hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 21. August 1981 - BVerwG 4 C 65.80 - BVerwGE 64, 42 [BVerwG 21.08.1981 - 4 C 65/80]; Beschluß vom 17. Mai 1988 - BVerwG 4 B 82.88 - Buchholz 406.11 § 35 BBauG Nr. 248).
Das Berufungsgericht hat bei seiner Entscheidung aus dieser Rechtsprechung nicht die gebotenen Konsequenzen gezogen. Es sieht als erwiesen an, daß in der Zeitspanne von Mai 1988 bis Ende Dezember 1989, in der der Lackierbetrieb nach seinen Annahmen ruhte, der Berechtigte nicht zu erkennen gegeben habe, daß er von dem Bestandsschutz, der aus der Baugenehmigung vom 18. Juli 1980 folgte, keinen Gebrauch mehr machen wolle, weil es "aus der Fortführung des Betriebs durch die Firma T. mit Beginn des Jahres 1990" folgert, daß "die räumliche und die technische Ausstattung der Lackiererei nicht beseitigt" worden seien. Dabei trägt es nicht ausreichend dem Umstand Rechnung, daß das Eigentum an dem Betriebsgrundstück im Zuge eines Konkursverfahrens auf die jetzigen Eigentümer übergegangen ist, und daß die Klägerin ausdrücklich vorgetragen hat, daß der in Konkurs gefallene frühere Betriebsinhaber das Eigentum am Betriebsgrundstück aufgrund von Vollstreckungsmaßnahmen verloren habe. Gibt es Hinweise, die geeignet sind, die These zu erschüttern, daß trotz immerhin fast zwanzigmonatigen Stillstandes die betriebliche Kontinuität gewahrt worden sei, so bedarf es eingehenderer Prüfung, ob der Autolackierbetrieb ungeachtet der Verwertung durch die Gläubiger als solcher erhalten geblieben ist; denn die Möglichkeit, daß er bei dieser Gelegenheit zerschlagen wurde, läßt sich nicht von vornherein ausschließen, zumal das Vorbringen der Klägerin, die Autolackiererei werde seit ihrer Wiedereröffnung Anfang 1990, anders als in der Vergangenheit, "fabrikmäßig" betrieben, darauf hindeutet, daß die jetzige technische Ausstattung mit der früheren nicht identisch ist.
b) Selbst wenn die auf dem Nachbargrundstück betriebene Autolackiererei weiterhin baurechtlichen Bestandsschutz genießt, ergeben sich hieraus nicht ohne weiteres die Konsequenzen, die das Berufungsgericht gezogen hat. Richtig ist allerdings der rechtliche Ausgangspunkt der Vorinstanz.
Das Vorhaben der Klägerin beurteilt sich auf der Grundlage des einschlägigen Bebauungsplans nach § 30 Abs. 1 BauGB. Die Existenz der baurechtlich genehmigten Autolackiererei in dem festgesetzten allgemeinen Wohngebiet macht den Bebauungsplan nicht funktionslos, auch nicht teilweise in bezug auf das Grundstück der Klägerin; denn die Existenz der Lackiererei schafft, selbst wenn sie ein Wohnen auf dem Nachbargrundstück wegen Gesundheitsgefahren ausschließen würde, keinen Zustand, der eine Verwirklichung des Bebauungsplans auf unabsehbare Zeit ausschließt (vgl. BVerwG, Urteil vom 29. April 1977 - BVerwG 4 C 39.75 - BVerwGE 54, 5 (8 ff.) [BVerwG 29.04.1977 - IV C 39/75]; BVerwG, Urteil vom 3. August 1990 - BVerwG 7 C 41-43.89 - BVerwGE 85, 273 (282 f.)). Der von den Festsetzungen des Plans abweichende Zustand ist nicht so verfestigt, daß nicht damit gerechnet werden könnte, daß auf dem Grundstück wieder wohnverträgliche Verhältnisse entstehen. So erscheint es nicht von vornherein ausgeschlossen, daß z.B. die rechtswidrig erteilte Baugenehmigung zurückgenommen wird oder daß der Betreiber der Lackiererei wegen etwa ihm erteilter Auflagen gemäß § 24 BImSchG es vorzieht, den Betrieb an einen geeigneteren Standort zu verlegen.
Nach § 30 BauGB ist das Vorhaben der Klägerin grundsätzlich zulässig, da es die Errichtung eines Wohngebäudes zum Gegenstand hat, die mit der Ausweisung eines allgemeinen Wohngebiets in Einklang steht. Rechtliche Schranken der Zulassung ergeben sich indes, auch insoweit ist dem Berufungsgericht zu folgen, aus § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO, wonach die in den §§ 2 bis 14 BauNVO aufgeführten baulichen Anlagen trotz Übereinstimmung mit den konkreten planerischen Festsetzungen unzulässig sind, wenn von ihnen Belästigungen oder Störungen ausgehen können, die nach der Eigenart des Baugebiets im Baugebiet selbst oder in dessen Umgebung unzumutbar sind, oder wenn sie solchen Belästigungen oder Störungen ausgesetzt werden. Am letzten Halbsatz dieser Regelung, der durch die 4. Verordnung zur Änderung der Baunutzungsverordnung vom 23. Januar 1990 (BGBl I S. 132) angefügt worden ist, muß sich das Vorhaben der Klägerin messen lassen.
Zwar wird gegen die ergänzte Fassung im Schrifttum der Einwand erhoben, das immissionsschutzrechtliche Verursacherprinzip werde ins Gegenteil verkehrt, wenn einer im Baugebiet "an sich" zulässigen schutzwürdigen Nutzung ein ihr nach § 30 BauGB zustehender Anspruch auf die Bebauungsgenehmigung mit der Begründung versagt werden könne, sie würde sich sonst unzumutbaren Immissionen einer "an sich" unzulässigen Anlage aussetzen (vgl. Fickert/Fieseler, Kommentar zur BauNVO, 7. Aufl. 1992, § 15 Rn. 24.1).
Diese Kritik ist jedoch nicht geeignet, die im Jahre 1990 getroffene Regelung vom Grundansatz her in Frage zu stellen. In der Begründung des Regierungsentwurfs (BRDrucks 354/89, S. 59) wird zum Ausdruck gebracht, daß die Ergänzung des § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO "der für die Berücksichtigung von Immissionsschutzbelangen im Genehmigungsverfahren bedeutsamen Gegenseitigkeit der Rücksichtnahme als einem allgemeinen Grundsatz des Bauplanungsrechts" entspreche. Diese Erwägung steht in Einklang mit der Rechtsprechung des Senats. Danach stellt sich § 15 Abs. 1 BauNVO im überplanten Bereich als eine besondere Ausprägung des Rücksichtnahmegebots dar (vgl. BVerwG, Urteil vom 5. August 1983 - BVerwG 4 C 96.79 - BVerwGE 67, 334), das gewährleisten soll, Nutzungen, die geeignet sind, Spannungen und Störungen hervorzurufen, einander so zuzuordnen, daß Konflikte möglichst vermieden werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. März 1981 - BVerwG 4 C 1.78 - Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 44). Welche Anforderungen sich hieraus im einzelnen ergeben, hängt maßgeblich davon ab, was dem Rücksichtnahmebegünstigten einerseits und dem Rücksichtnahmeverpflichteten andererseits nach Lage der Dinge zuzumuten ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. Februar 1977 - BVerwG 4 C 22.75 - BVerwGE 52, 122). Dies beurteilt sich nach der jeweiligen Situation der benachbarten Grundstücke. Ist die Grundstücksnutzung aufgrund der konkreten Gegebenheiten mit einer spezifischen gegenseitigen Pflicht zur Rücksichtnahme belastet, so führt dies nicht nur zu einer Pflichtigkeit desjenigen, der Immissionen verursacht, sondern auch desjenigen, der sich den Wirkungen solcher Immissionen aussetzt (vgl. BVerwG, Urteile vom 12. Dezember 1975 - BVerwG 4 C 71.73 - BVerwGE 50, 49 und vom 16. März 1984 - BVerwG 4 C 50.80 - Buchholz 406.11 § 34 BBauG Nr. 100). So gesehen stellt sich der letzte Halbsatz des § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO ebenso wie die übrigen Tatbestandsalternativen des § 15 Abs. 1 BauNVO als eine zulässige Bestimmung des Eigentumsinhalts im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG dar. Soweit er in Einzelfällen die Folge nach sich zieht, daß ein planungsrechtlich - an sich - zulässiges Vorhaben nicht ausgeführt werden darf, folgt er dem Regelungsmuster, das auch sonst für § 15 Abs. 1 BauNVO charakteristisch ist.
Das Berufungsurteil läßt indes nicht eindeutig erkennen, wo bei der Bestimmung dessen, was der Klägerin in der konkreten Situation noch zumutbar oder nicht mehr zumutbar ist, die Grenzen zu ziehen sind. Das Berufungsgericht stellt zu einseitig darauf ab, daß das Baugrundstück in einem allgemeinen Wohngebiet liegt. Aus dieser Lage folgt nicht ohne weiteres, daß Immissionen, die für ein solches Gebiet untypisch sein mögen, unzumutbar im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO sind. Beizupflichten ist dem Berufungsgericht lediglich in der Annahme, daß die Gebietsart bei der Beurteilung der Zumutbarkeit eine Rolle spielt. Die Zuordnung zu einer der in den §§ 2 bis 11 BauNVO genannten Gebietskategorien gibt aber nicht allein den Ausschlag dafür, ob bestimmte, für die jeweilige Gebietskategorie untypische Immissionen "nach der Eigenart des Baugebiets" in diesem unzumutbar sind. Nach § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO sind bei der Beurteilung der Zumutbarkeit auch etwaige Besonderheiten in den Blick zu nehmen, die sich aus der spezifischen Eigenart oder der Umgebung des Baugebiets ergeben. Auf diese Weise wird dem Umstand Rechnung getragen, daß Baugebiete, was die innere Struktur und die äußeren Rahmenbedingungen angeht, in eine von Fall zu Fall verschiedene örtliche Situation hineingeplant werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 3. Februar 1984 - BVerwG 4 C 17.82 - BVerwGE 68, 369; Beschluß vom 16. August 1989 - BVerwG 4 B 242.88 - Buchholz 406.12 § 15 BauNVO Nr. 14). Liegt das Baugrundstück in einem allgemeinen Wohngebiet, in dem die Gemeinde die Errichtung von Gewerbebetrieben nicht überhaupt ausgeschlossen hat, oder in der Nachbarschaft eines Gebiets, in dem dem Schutz des Wohnens ein geringerer Stellenwert zukommt, so ist der Eigentümer situationsbedingt nicht in demselben Maße schutzwürdig wie er es in einem gegen gewerbliche Nutzungen vollständig abgeschirmten Gebiet wäre. Ein solches baurechtlich zulässiges Nebeneinander von Wohnen und gewerblicher Betätigung schlägt sich nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bei der Festlegung der Zumutbarkeitsgrenze in der Bildung eines Mittelwerts nieder (vgl. BVerwG, Urteil vom 12. Dezember 1975 - BVerwG 4 C 71.73 - a.a.O.; Beschlüsse vom 5. März 1984 - BVerwG 4 B 171.83 - Buchholz 406.11 § 34 BBauG Nr. 98 und vom 29. Oktober 1984 - BVerwG 7 B 149.84 - DVBl 1985, 397).
Auch faktische Vorbelastungen können dazu führen, daß die Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme sich vermindert und Beeinträchtigungen in weitergehendem Maße zumutbar sind, als sie sonst in dem betreffenden Baugebiet hinzunehmen wären (vgl. BVerwG, Urteil vom 12. Dezember 1975 - BVerwG 4 C 71.73 - a.a.O.; Beschluß vom 28. September 1993 - BVerwG 4 B 151.93 - Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 119). Im vorliegenden Falle kann nicht außer acht gelassen werden, daß das allgemeine Wohngebiet, in dem das Baugrundstück liegt, von den tatsächlichen Gegebenheiten her durch die auf dem Nachbargrundstück vorhandene Autolackiererei mitgeprägt wird. Diese erscheint an ihrem Standort zwar aus der Sicht des Städtebaurechts als Fremdkörper, da sie nach den Feststellungen des Berufungsgerichts selbst dann, wenn sie dem Stand der Technik vollauf gerecht würde, nicht so betrieben werden kann, daß sie im Sinne des § 4 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO keine Störungen hervorruft. Ihrer Existenz ist aber gleichwohl Rechnung zu tragen. Sie ist im Jahre 1980 baurechtlich genehmigt worden und genießt auf der Grundlage der bisherigen Erkenntnisse des Berufungsgerichts Bestandsschutz. In der Rechtsprechung des Senats ist anerkannt, daß der Bestandsschutz, den eine Nutzung genießt, Bestandteil der Situation ist, in die das Grundstück und seine Umgebung hineingestellt sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 12. Dezember 1975 - BVerwG 4 C 71.73 - a.a.O.; Beschluß vom 18. Dezember 1990 - BVerwG 4 N 6.88 - Buchholz 406.11 § 1 BauGB Nr. 50). In bezug auf etwaige mit der Nutzung verbundene Beeinträchtigungen wirkt er nach der einen Seite als Situationsberechtigung, nach der anderen als Situationsbelastung. Ist er in Rechnung zu stellen, so wäre es verfehlt, die nach § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO gebotene Zumutbarkeitsbetrachtung an dem Schutzniveau auszurichten, auf das in einem Wohngebiet Anspruch besteht, in dem keine dem Wohnen abträglichen Störfaktoren zu verzeichnen sind. § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO stellt - insofern gleicht er § 34 Abs. 1 BauGB - auf die Eigenart des konkreten Baugebiets ab und nicht auf den abstrakten Gebietscharakter gemäß den §§ 2 - 11 BauNVO. Die Klägerin muß es deshalb als schutzmindernden Umstand hinnehmen, daß ihr Grundstück aufgrund der baurechtlichen Zulassung eines emissionsträchtigen Betriebs auf dem Nachbargrundstück einer erheblichen Situationsbelastung unterliegt. Dies stellt sie selbst auch nicht in Abrede.
In dieser Situation steht das sich aus dem Bebauungsplan ergebende Recht, ein Wohnhaus zu errichten, unter dem Vorbehalt, daß der Nachbar grundsätzlich seinen emittierenden Betrieb fortführen und dadurch im Grundsatz auch die Wohnqualität des Baugrundstücks beeinträchtigen darf, dies jedoch nicht schrankenlos, sondern seinerseits unter dem Vorbehalt der Rücksichtnahme auf die für das Nachbargrundstück festgesetzte Nutzungsart. Beide Nutzungen müssen aufeinander so Rücksicht nehmen, daß sowohl die bestandskräftig genehmigte als auch die nach dem Bebauungsplan zulässige - wenn irgend möglich - ausgeübt werden können. Der Betreiber der emittierenden Anlage muß es hinnehmen, daß er einen Standort in einem allgemeinen Wohngebiet und damit in einer gegenüber Immissionen schutzbedürftigen Umgebung gewählt hat; darüber hilft ihm auch der durch die Baugenehmigung vermittelte Bestandsschutz nicht hinweg. Die ihm immissionsschutzrechtlich obliegenden Pflichten sind nach Maßgabe dessen zu konkretisieren, was in der Nachbarschaft seiner Anlage bebauungsrechtlich allgemein zulässig ist, nämlich Wohnhäuser. Das entspricht der inneren Wechselbeziehung, in der Bebauungsrecht und Immissionsschutzrecht zueinander stehen (vgl. BVerwG, Urteile vom 4. Juli 1986 - BVerwG 4 C 31.84 - BVerwGE 74, 315 [BVerwG 04.07.1986 - 4 C 31/84], vom 14. April 1989 - BVerwG 4 C 52.87 - Buchholz 406.11 § 9 BauGB Nr. 36, vom 29. April 1988 - BVerwG 7 C 33.87 - BVerwGE 79, 254, vom 19. Januar 1989 - BVerwG 7 C 77.87 - BVerwGE 81, 197 [BVerwG 19.01.1989 - 7 C 77/87] und vom 24. April 1991 - BVerwG 7 C 12.90 - BVerwGE 88, 143 [BVerwG 24.04.1991 - 7 C 12/90]).
Bei der Entscheidung nach § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO ist folglich zu prüfen, ob durch dem Betreiber zumutbare Maßnahmen der Emissionsvermeidung und -minderung ein Zustand erreicht werden kann, der auf dem Nachbargrundstück ein Wohnen noch ermöglicht, nämlich ein Wohnen ohne Gesundheitsgefahren. Gesunde Wohnverhältnisse (vgl. § 1 Abs. 5 Satz 2 Nr. 1, § 34 Abs. 1 Satz 2 BauGB) müssen gewahrt bleiben. Ist dies der Fall, bietet § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO keine Handhabe, die Baugenehmigung für die auf dem Grundstück baurechtlich allgemein zulässige Nutzung zu versagen. Das bedeutet freilich nicht, daß der Betreiber der emittierenden Anlage nur soweit Rücksicht zu nehmen hätte, daß die Grenze zu ungesunden Wohnverhältnissen unterschritten bleibt; er kann auch zu einer weitergehenden Rücksichtnahme verpflichtet sein, worüber hier indes nicht zu entscheiden ist. Die Grenze der Wohnunverträglichkeit markiert nur, oberhalb welchen Grades der Immissionsbelastung eine Baugenehmigung gemäß § 15 Abs. 1 Satz 2, 2. Alt. BauNVO nicht mehr erteilt werden darf.
Welche Maßnahmen dem zur Rücksichtnahme auf seine Nachbarschaft verpflichteten Anlagenbetreiber - möglicherweise auch über das zur Herstellung von Wohnverträglichkleit gebotene Mindestmaß hinaus - zumutbar sind, bestimmt sich nach § 22 Abs. 1 Satz 1 BImSchG (vgl. BVerwG, Urteile vom 30. September 1983 - BVerwG 4 C 74.78 - BVerwGE 68, 58 [BVerwG 30.09.1983 - 4 C 74/78] und vom 24. September 1992 - BVerwG 7 C 7.92 - Buchholz 406.12 § 15 BauNVO Nr. 22). Danach sind (immissionsschutzrechtlich) nicht genehmigungsbedürftige Anlagen so zu errichten und zu betreiben, daß schädliche Umwelteinwirkungen verhindert werden, die nach dem Stand der Technik vermeidbar sind (Nr. 1), und daß nach dem Stand der Technik unvermeidbare schädliche Umwelteinwirkungen auf ein Mindestmaß beschränkt werden (Nr. 2). Der dem Betreiber der Autolackiererei aufgrund der Baugenehmigung zukommende Bestandsschutz kann sich nur in den Grenzen entfalten, die ihm das Immissionsschutzrecht läßt. Dieses Recht ist dynamisch angelegt. Die Grundpflichten gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 BImSchG sind nicht nur im Zeitpunkt der Errichtung der Anlage, sondern in der gesamten Betriebsphase zu erfüllen. Sie wirken unmittelbar. Der Betreiber kann sich nicht darauf berufen, daß der Genehmigungsbescheid - wie hier die bestandskräftige Baugenehmigung - keine konkreten Anforderungen an den Schutz der Nachbarschaft stellt (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 9. März 1988 - BVerwG 7 B 34.88 - DVBl 1988, 560 = NJW 1988, 2552 = Buchholz 406.25 § 24 BImSchG Nr. 1 und vom 26. August 1988 - BVerwG 7 B 124.88 - NVwZ 1989, 257 = NuR 1989, 256 = Buchholz 406.25 § 24 BImSchG Nr. 2).
Die Baugenehmigungsbehörde hat bei der Entscheidung über die Genehmigung eines baurechtlich allgemein zulässigen Wohnbauvorhabens in der Nachbarschaft einer emittierenden Anlage davon auszugehen, daß deren Betreiber die ihm nach § 22 Abs. 1 Satz 1 BImSchG obliegenden Pflichten erfüllt. Zwar ist die Durchsetzung dieser Pflicht nicht ohne weiteres gewährleistet, weil § 24 BImSchG ein Einschreiten gegen den die Grundpflichten nicht erfüllenden Betreiber in das Ermessen der zuständigen Behörde stellt. Jedoch wäre es nicht gerechtfertigt, demjenigen, der sein Grundstück in der baurechtlich allgemein zulässigen Weise bebauen will, dieses Recht nur deshalb vorzuenthalten, weil der Betreiber der emittierenden Anlage die ihm gesetzlich obliegenden Pflichten nicht erfüllt und die Behörde nichts tut, ihn dazu anzuhalten. Ob sich in einem solchen - durch die rechtswidrige, wenn auch bestandskräftige Baugenehmigung verursachten - Fall das behördliche Ermessen möglicherweise gegen Null reduziert, mag dahinstehen. Jedenfalls wird das Ermessen um so mehr eingeschränkt, je mehr die den bauwilligen Nachbarn treffenden Immissionen sich der Grenze nähern, die zur Wohnunverträglichkeit führen würden und damit das Wohnbauvorhaben zum Scheitern bringen müßten (BVerwG, Urteil vom 24. September 1992 - BVerwG 7 C 6.92 - BVerwGE 91, 92 (94)).
Die vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen bieten keine ausreichende Tatsachengrundlage für die Entscheidung, ob die dem Betreiber der Autolackiererei aufgrund des Rücksichtnahmegebots in Verbindung mit § 22 Abs. 1 Satz 1 BImSchG obliegenden Pflichten zur Immissionsvermeidung und -minderung geeignet sind, die Immissionsbelastung für das Grundstück der Klägerin auf ein wohnverträgliches Maß zu reduzieren. Ist dies der Fall, darf der Klägerin die Bebauung ihres Grundstücks mit einem Wohnhaus nicht verweigert werden.
Die erneute Befassung mit der Sache wird dem Berufungsgericht überdies Gelegenheit zu der Prüfung bieten, ob Anlaß dazu besteht, den Betreiber der Autolackiererei, dessen Interessen durch die Entscheidung handgreiflich berührt werden, nach § 65 Abs. 1 VwGO beizuladen.
Gaentzsch
Hien
Lemmel
Heeren
Halama