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Bundesverwaltungsgericht

Entscheidung vom 16.10.1984, Az.: 9 C 67/83

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts der Freien Hansestadt Bremen vom 5. Oktober 1981 wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.

Entscheidungsgründe

I.Der Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger, reiste im September 1979 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Er begehrt seine Anerkennung als Asylberechtigter mit folgender Begründung: In seinen Heimatort Kayseri sei es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen politischen Parteien gekommen. Weil die Ordnungskräfte die Lage nicht mehr beherrscht hätten, sei das Kriegsrecht verhängt worden. Er sei politisch nicht interessiert und habe in seiner Heimat auch keiner Partei oder politischen Organisation angehört, obwohl er sowohl von Rechts- als auch von Linksradikalen wiederholt zum Beitritt aufgefordert worden sei. Er sei aber persönlich mehrmals von Rechtsradikalen angegriffen und immer wieder in Schlägereien verwickelt worden. Einmal sei ein Café, in dem er sich gerade aufgehalten habe, von einem rechtsradikalen Kommandounternehmen mit Waffengewalt überfallen worden. Anfang September 1979 seien zwei seiner Freunde, mit denen er zuvor zusammengesessen habe, bei, einem ähnlichen Überfall angeschossen worden. Da er auch anonyme Briefe mit Todesdrohungen erhalten habe, sei er nach diesem Vorfall in die Bundesrepublik Deutschland geflüchtet.

Das Asylbegehren des Klägers blieb im Verwaltungsverfahren ohne Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat seine Klage als offensichtlich unbegründet abgewiesen und dazu unter anderem ausgeführt: Der Kläger habe selbst nicht geltend gemacht, vom türkischen Staat verfolgt zu werden. Dahinstehen könne, unter welchen Voraussetzungen Angriffe und Drohungen durch den politischen Gegner einer staatlichen Verfolgung gleichzusetzen seien. Denn es gebe keine Anhaltspunkte dafür, daß eine derartige Verfolgungssituation nach der Machtübernahme der Militärregierung weiterbestehen könnte.

Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör: Das Verwaltungsgericht habe sich in den Entscheidungsgründen auf Presseberichte und eine Auskunft des Auswärtigen Amtes bezogen, die nicht Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen oder in anderer Weise in das Verfahren eingeführt worden seien. Er habe daher keine Gelegenheit gehabt, zu diesen Erkenntnisquellen, bei denen es sich nicht um allgemeinkundige Tatsachen handele, Stellung zu nehmen.

Die Beklagte hat sich im Revisionsverfahren zur Sache nicht geäußert.

II.Die zulässige Revision erweist sich als unbegründet.

Die Revision wird ausschließlich auf die Versagung rechtlichen Gehörs gestützt. Die revisionsgerichtliche Prüfung bleibt gemäß § 137 Abs. 3 Satz 1 VwGO auf den geltend gemachten Verfahrensmangel beschränkt, weil die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat und das angefochtene Urteil nicht von einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts abweicht.

Das Verwaltungsgericht hat den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör, so wie er in Art. 103 Abs. 1 GG grundrechtlich verbürgt und in § 108 Abs. 2 VwGO für das verwaltungsgerichtliche Verfahren näher ausgestaltet ist, nicht verletzt. Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht, den Prozeßbeteiligten die Möglichkeit der Kenntnis- und Stellungnahme zu den seiner Entscheidung zugrundliegenden Sachverhalt einzuräumen und nur solche Tatsachen und Beweismittel zu verwerten, zu denen die Beteiligten sich ausreichend äußern konnten. Das Verwaltungsgericht hat keine Anhaltspunkte dafür gesehen, daß die vom Kläger beschriebene, die Zeit vor seiner Ausreise aus der Türkei betreffende Verfolgungssituation durch "Angriffe und Bedrohungen durch den politischen Gegner" nach der Machtübernahme der Militärregierung fortbestehen konnte. Diese Feststellungen betreffen zum Teil, nämlich im Hinblick auf die am 12. September 1980 in der Türkei vollzogene Machtübernahme durch das Militär, allgemeinkundige, den Beteiligten ohne weiteres als entscheidungserheblich bewußte, zeitgeschichtliche Tatsachen (Urteil vom 13. Juli 1982 - BVerwG 9 C 53.82 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 127). Die die Klageabweisung tragenden Feststellungen zu den Auswirkungen dieser Machtübernahme, die keine allgemeinkundigen Tatsachen darstellen (Urteil vom 13. Juli 1982 - BVerwG 9 C 53.82 - a.a.O.;Urteil vom 22. März 1983 - BVerwG 9 C 860.82 - BVerwGE 67, 83 [84]), beruhen auf der Würdigung mehrerer Zeitungsberichte und einer amtlichen Auskunft des Auswärtigen Amtes. Der Kläger hatte im Verfahren der Vorinstanz ausreichend Gelegenheit, sich zu diesen Informationsquellen zu äußern; denn sie sind - wie dem Urteil des Verwaltungsgerichts zu entnehmen ist - in der mündlichen Verhandlung mit ihm erörtert worden.

Das wird nicht dadurch in Frage gestellt, daß die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht vom 5. Oktober 1981 nur den Vermerk aufweist, die Sach- und Rechtslage sei erörtert und der Kläger auf die Aussichtslosigkeit seines Asylbegehrens hingewiesen worden, die Niederschrift dagegen keinen ausdrücklichen Hinweis darüber enthält, daß die Zeitungsberichte und die amtliche Auskunft des Auswärtigen Amtes, die nach dem Inhalt der Streitakten den Beteiligten auch nicht vor der Verhandlung auf andere Weise übermittelt worden waren, zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden sind. Daraus folgt jedoch nicht, daß diese in der mündlichen Verhandlung nicht zur Sprache gekommen sind. Denn die Feststellung, daß bestimmte Zeitungsberichte und amtliche Auskünfte in der mündlichen Verhandlung erörtert worden sind, zählt nicht zu den nach § 105 VwGO i.V.m. § 160 ZPO für die mündliche Verhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten, deren Beachtung nach § 165 Satz 1 ZPO nur durch das Protokoll bewiesen werden kann. Die Feststellung, daß diese Erkenntnisquellen Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, mußte daher nicht in die Verhandlungsniederschrift aufgenommen werden (vgl. im Hinblick auf Beiakten: Beschluß vom 8. März 1963 - BVerwG 7 B 90.61 - Buchholz 310 § 117 VwGO Nr. 1; Urteil vom 7. November 1973 - BVerwG 6 C 5.73 - Buchholz 448.0 § 25 WPflG Nr. 60;Beschluß vom 29. April 1983 - BVerwG 9 B 2968.80 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 134). Der für die Entscheidung maßgebliche Verhandlungsstoff ergibt sich aus dem Tatbestand des Urteils und nicht aus der Verhandlungsniederschrift (Urteil vom 6. Dezember 1978 - BVerwG 1 C 46.75 - Buchholz 402.5 WaffG Nr. 15). Der Tatbestand des verwaltungsgerichtlichen Urteils stellt eine öffentliche Urkunde dar, die nicht nur nach § 173 VwGO i.V.m. § 314 ZPO Beweis für das mündliche Parteivorbringen liefert, sondern gemäß § 98 VwGO i.V.m. § 418 Abs. 1 ZPO auch vollen Beweis für die darin bezeugten eigenen Wahrnehmungen oder Handlungen des Gerichts erbringt (Beschluß vom 10. Januar 1983 - BVerwG 9 B 13640.81 -).

Allerdings enthält auch der als "Tatbestand" bezeichnete Teil des angefochtenen Urteils keine solche Feststellung; nur den mit "Entscheidungsgründe" überschriebenen Ausführungen ist zu entnehmen, daß die Zeitungsberichte und die amtliche Auskunft mit dem Kläger erörtert worden sind. Auch dies ist jedoch - unabhängig von der Frage, inwieweit dem Urteilstatbestand eine negative Beweiskraft zukommt - unschädlich. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist anerkannt, daß § 117 Abs. 2 Nr. 4 VwGO zwar eine inhaltliche, nicht aber zwingend auch eine äußere Trennung des "Tatbestands" von den "Entscheidungsgründen" verlangt. (Beschluß vom 18. August 1976 - BVerwG 4 B 121.76 - Buchholz 310 § 117 VwGO Nr. 10). Das Revisionsgericht ist gemäß § 137 Abs. 2 VwGO an die in den angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen in der Regel auch dann gebunden, wenn diese nicht im Urteilstatbestand, sondern in den Entscheidungsgründen enthalten sind. Dementsprechend ist die Berichtigung des "Tatbestands" nach § 119 Abs. 1 VwGC unabhängig davon zulässig, ob sich die unrichtige oder unklare Feststellung im Tatbestand oder in den Entscheidungsgründen befindet. Auch im letzteren Fall muß daher gegebenenfalls auf Berichtigung gedrungen werden. Da der Kläger eine Tatbestandsberichtigung nicht beantragt hat, ist im Revisionsverfahren von der Feststellung der Vorinstanz auszugehen, nach der die bei der Entscheidung verwerteten Erkenntnisquellen mit ihn erörtert worden sind.

Das Verwaltungsgericht hat den Anspruch des Klägers auf ausreichende Gewährung rechtlichen Gehörs auch nicht verletzt, indem es die herangezogenen Presseberichte und die amtliche Auskunft des Auswärtigen Amtes erst in der mündlichen Verhandlung in das Verfahren eingeführt hat.

Den Anforderungen des Grundsatzes rechtlichen Gehörs wird regelmäßig dadurch genügt, daß das Tatsachengericht die der Entscheidung zugrundeliegenden Gutachten, Zeitungsberichte und amtlichen Auskünfte zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung macht und die Beteiligten dazu anhört (vgl.Beschluß vom 29. April 1983 - BVerwG 9 B 2968.80 - a.a.O.). Von einer Versagung des rechtlichen Gehörs kann im übrigen auch dann nicht gesprochen werden, wenn der Betroffene oder sein. Prozeßvertreter es unterlassen haben, Gebrauch von den verfahrensrechtlich gebotenen Möglichkeiten zu machen, sich rechtliches Gehör zu verschaffen (Urteile vom 31. August 1964 - BVerwG 8 C 350.63 - BVerwGE 19, 231 [237] und vom 11. November 1970 - BVerwG 6 C 49.68 - BVerwGE 36, 264 [266]). Der Kläger war im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht am 5. Oktober 1981 anwesend und hätte, wenn es ihm nicht möglich war, sich dort mit Hilfe des ebenfalls erschienenen Dolmetschers auf die angeführten Beweismittel zu erklären, gemäß § 173 VwGO i.V.m. § 227 Abs. 1 Satz 1 ZPO einen Vertagungsantrag stellen können und stellen müssen.

Der Kläger hat auch die durch das Ausbleiben seiner damaligen Prozeßbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung möglicherweise entstandenen Nachteile hinzunehmen. Die mit dem Hinweis, daß bei Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne diesen verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO), verbundene Ladung wurde den Prozeßbevollmächtigten rechtzeitig vor dem Verhandlungstermin am 21. August 1981 ordnungsgemäß zugestellt. Die Prozeßvertreter hatten somit Gelegenheit, an der Verhandlung, in deren Verlauf die Zeitungsberichte und die amtliche Auskunft des Auswärtigen Amtes in das Verfahren eingeführt worden sind, teilzunehmen. Ihre vorherige Unterrichtung über den Inhalt dieser Beweismittel und die Absicht ihrer Verwertung war nicht geboten. Denn die Beweismittel haben dem Rechtsstreit keine überraschende Wendung gegeben, mit der der Kläger bzw. seine Prozeßvertreter nach dem bisherigen Verlauf des Streitverfahrens nicht zu rechnen brauchten (vgl.Beschluß vom 29. April 1983 - BVerwG 9 B 2968.80 - a.a.O.). Der Kläger und seine Prozeßbevollmächtigten mußten vielmehr mit einer Beweiserhebung in der mündlichen Verhandlung über die Sicherheitslage in der Türkei nach der Machtübernahme durch das Militär schon deshalb rechnen, weil zu dieser für die Beurteilung des klägerischen Asylbegehrens zentralen Frage bis zum Verhandlungstermin keine Beweismittel in das Verfahren eingeführt worden waren. Amtliche Auskünfte des Auswärtigen Amtes und Presseberichte gehören auch zu den üblicherweise zur Klärung derartiger Fragen eingesetzten Beweismitteln.

Die Revision war danach mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 2 VwGO zurückzuweisen.