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Oberverwaltungsgericht Berlin-brandenburg

Entscheidung vom 17.10.2013, Az.: OVG 3 S 40.13

Tenor

Die Beschwerde des Antragsgegners zu 2. gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 30. Mai 2013, soweit der Antragsgegner zu 2. darin im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet wird, sich vor einer Abschiebung des Antragstellers nach Italien oder in einen anderen Rückkehrstaat zu vergewissern, dass der Antragsteller dort unmittelbar einer zur Personensorge berechtigten Person oder einer geeigneten Aufnahmeeinrichtung für Minderjährige übergeben wird, wird zurückgewiesen.

Die Kosten der Beschwerde trägt der Antragsgegner zu 2.

Der Wert des Beschwerdegegenstandes wird auf 500 EUR festgesetzt.

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde, mit der der Antragsgegner zu 2. sich gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts wendet, soweit sie ihm - unter Ablehnung des auf Untersagung der Abschiebung des Antragstellers nach Italien gerichteten Eilrechtsschutzantrags im Übrigen - aufgibt, sich vor einer solchen Abschiebung zu vergewissern, dass der Antragsteller unmittelbar einer zur Personensorge berechtigten Person oder einer geeigneten Aufnahmeeinrichtung für Minderjährige übergeben wird, hat keinen Erfolg.

Allerdings stellt der Antragsgegner zu 2. erfolgreich die der angefochtenen Entscheidung insoweit zu Grunde liegende Auffassung des Verwaltungsgerichts in Frage, die Verpflichtung des Antragsgegners zu 2. zur Beachtung der genannten besonderen Anforderungen an die Abschiebung eines unbegleiteten Minderjährigen bei einer Abschiebung des Antragstellers nach Italien folge aus § 58 Abs. 1a AufenthG. Nach dieser durch Art. 1 Nr. 31 Buchstabe b des Gesetzes zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex vom 22. November 2011 (BGBl. I S. 2258) in § 58 AufenthG eingefügten Bestimmung hat sich die Behörde vor der Abschiebung eines unbegleiteten minderjährigen Ausländers zu vergewissern, dass dieser im Rückkehrstaat einem Mitglied seiner Familie, einer zur Personensorge berechtigten Person oder einer geeigneten Aufnahmeeinrichtung übergeben wird.

Zu Recht macht der Antragsgegner zu 2. geltend, § 58 Abs. 1a AufenthG finde im Rahmen von Überstellungen im Dublin-Verfahren keine Anwendung, weil er zur Umsetzung des Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (- Rückführungsrichtlinie - ABl. L 348 S. 98) ins deutsche Recht diene, die ihrerseits auf Dublin-Überstellungen nicht anwendbar sei.

Art. 10 Abs. 2 der Rückführungsrichtlinie sieht vor, dass sich die Behörden vor Abschiebung von unbegleiteten Minderjährigen aus dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats vergewissern, dass die Minderjährigen einem Mitglied ihrer Familie, einem offiziellen Vormund oder einer geeigneten Aufnahmeeinrichtung im Rückkehrstaat übergeben werden. Unter „Rückkehr“ ist nach der Begriffsbestimmung in Art. 3 Nr. 3 der Richtlinie, auf die der Antragsgegner zu 2. in diesem Zusammenhang hinweist, die Rückreise von Drittstaatsangehörigen in deren Herkunftsland oder ein Transitland gemäß gemeinschaftlichen oder bilateralen Rückübernahmeabkommen oder anderen Vereinbarungen oder ein anderes Drittland, in das der betreffende Drittstaatsangehörige freiwillig zurückkehren will und in dem er aufgenommen wird, zu verstehen. Gemeinsamer Oberbegriff ist der des (Herkunfts-, Transit- oder anderen) Drittlandes; hierunter fallen die EU-Mitgliedstaaten indessen nicht (vgl. auch Hörich, ZAR 2011, 281, 284). Die Überstellung eines Drittstaatsangehörigen in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union - hier Italien -, der seine Bereitschaft zur Übernahme in Erfüllung seiner mitgliedstaatlichen Verpflichtung nach Art. 16, 20 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. L 50 S. 1) erklärt hat, fällt daher nicht unter den Rückkehrbegriff des Art. 3 Abs. 3 der Rückführungsrichtlinie, der Zielstaat der Überstellung ist nicht Rückkehrstaat im Sinne ihres Art. 10 Abs. 2.

Es spricht alles dafür, dass § 58 Abs. 1a AufenthG, der nach der Begründung des Gesetzentwurfs (BT-Drs. 17/5470, S. 24) Art. 10 Abs. 2 der Rückführungsrichtlinie umsetzt, ebenso wenig wie die Richtlinie selbst auf Rücküberstellungen im Rahmen des Dublin-Verfahrens Anwendung findet (a.A. wohl HessVGH Beschluss vom 14. November 2012 - 3 D 1815/12 - juris, Rn. 7). Bereits aus der Gesetzesbezeichnung ergibt sich, dass der Gesetzgeber mit der Einfügung des Absatzes 1a in § 58 AufenthG (wie auch mit den weiteren Änderungen) lediglich die Umsetzung europarechtlicher Vorgaben (bzw. die Anpassung an diese) bezweckte. Der Gesetzestext selbst stimmt nicht nur im Wesentlichen mit dem des Art. 10 Abs. 2 Rückführungsrichtlinie überein; mit dem Begriff des Rückkehrstaates enthält er auch einen konkreten Bezug zum Rückkehrbegriff des Art. 3 Abs. 3 der Rückführungsrichtlinie. All dies lässt darauf schließen, dass § 58 Abs. 1a AufenthG nur für die von Art. 10 Abs. 2 der Rückführungsrichtlinie erfassten Fälle gilt.

Die Beschwerde hat dennoch keinen Erfolg, weil die vom Verwaltungsgericht bei der Ablehnung des Antrags auf vorläufige Untersagung der Abschiebung nach Italien ausgesprochene Maßgabe mit Blick auf Art. 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union gerechtfertigt ist. Der Senat sieht zwar keine durchgreifenden Anhaltspunkte dafür, dass systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Italien ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass ein Asylbewerber tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu werden, und hat sich insoweit der Rechtsprechung des 7. Senats des OVG Berlin-Brandenburg (Beschlüsse vom 17. Juni 2013 - OVG 7 S 33.13 -, juris, Rn. 13 ff., und vom 24. Juni 2013 - OVG 7 S 58.13 -, juris, Rn. 11 ff.) angeschlossen, wonach nicht besonders schutzbedürftige Personen nach Italien überstellt werden können, ohne dort eine erniedrigende oder unmenschliche Behandlung befürchten zu müssen (Beschluss des Senats vom 25. September 2013 - OVG 3 S 68.13 -). Als Minderjähriger ist der Antragsteller indessen in besonderem Maße schutzbedürftig. Insofern ist das Verwaltungsgericht zwar - vom Antragsteller nicht mit der Beschwerde angegriffen - unter Heranziehung der in der Antragserwiderung vom 18. April 2013 eingeführten Erkenntnisse des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge in nicht zu beanstandender Weise davon ausgegangen, dass Minderjährige, die im Rahmen von Dublin-Fällen überstellt werden, in Empfang genommen und betreut werden, sofern sie in Italien als Minderjährige gelten. Es ist jedoch - wiederum in Auswertung der Erkenntnisse des Bundesamts - davon ausgegangen, dass es zeitliche Probleme bei der Zuweisung von persönlichen Ansprechpartnern für Minderjährige geben kann. Angesichts dieser Erkenntnisse hält der Senat es für gerechtfertigt, wenn das Verwaltungsgericht dem Antragsgegner zu 2. aufgegeben hat, sich vor einer Abschiebung des Antragsstellers nach Italien zu vergewissern, dass er dort unmittelbar einer zur Personensorge berechtigten Person - falls eine solche in Italien zu finden sein sollte - oder einer geeigneten Aufnahmeeinrichtung für Minderjährige übergeben wird. Die Ausführungen der Beschwerde, wonach das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Fällen der Dublin-Überstellung von unbegleiteten Minderjährigen nach Italien „grundsätzlich“ die zuständige Liaisonbeamtin einbinde, die die zuständigen Behörden vor der Überstellung darüber informiere, dass es sich bei dem Betroffenen um einen unbegleiteten Minderjährigen handele, damit dort rechtzeitig die notwendigen Vorkehrungen getroffen werden könnten, lassen sich dem Schriftsatz das Bundesamts vom 18. April 2013 in dieser Form nicht entnehmen. Im Übrigen bestreitet auch der Antragsgegner zu 2. nicht, dass es - wie in der Stellungnahme des Bundesamts vom 18. April 2013 ausgeführt - zeitliche Probleme bei der Zuweisung von persönlichen Ansprechpartnern gebe. Sein Vorbringen, es sei nicht erforderlich, dass die unbegleiteten Minderjährigen gleich bei Ankunft im Zielstaat einen Vormund hätten, geht hieran vorbei.

Für den Antragsteller ist aus dem Verwaltungsvorgang des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge zwar zu ersehen, dass das an Italien gerichtete Wiederaufnahmegesuch Hinweise auf die Minderjährigkeit des Antragstellers und die entsprechende Zustimmung Italiens die Geburtsdaten des Antragstellers enthält, aus denen seine Minderjährigkeit ablesbar ist. Die vom Bundesamt anlässlich der ursprünglich für den 6. Februar 2013 geplanten Überstellung des Antragstellers an das italienische Innenministerium gerichtete Überstellungsmitteilung lässt indessen keinen gesonderten Hinweis darauf erkennen, dass es sich um einen Minderjährigen handele, der bereits am Flughafen in Empfang genommen, betreut und in einer altersgerechten Unterkunft untergebracht werden müsse. Erscheint auch danach nicht hinreichend gewährleistet, dass die italienischen Behörden rechtzeitig über das Eintreffen eines betreuungsbedürftigen Minderjährigen informiert werden, ist es gerechtfertigt, dies über die vom Verwaltungsgericht formulierte Maßgabe sicherzustellen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG. Beschwerdegegenstand war allein die vom Verwaltungsgericht - bei Ablehnung des auf Abschiebungsschutz gerichteten Antrags im Übrigen - zu Lasten des Antragsgegners zu 1. ausgesprochene Maßgabe, die mit einem Bruchteil von einem Fünftel des erstinstanzlichen Streitwerts angemessen bewertet erscheint.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).